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Thema: [Forever] Remember me (Allerlei-Challenge)

  1. #1
    There is good in you... Avatar von Chayiana
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    Standard [Forever] Remember me (Allerlei-Challenge)

    Titel: Remember me
    Autorin: Chayiana
    Fandom: Forever
    Spoiler bis Episode 1x11 („Skinny Dipper“). Und noch ein wichtiges Detail, das man als Nicht-Kenner der Serie wissen müsste, um die FF zu verstehen (wer den Spoiler allerdings nicht liest, wird sich wahrscheinlich sehr viel besser in die Protagonistin hineinversetzen können ):

    Spoiler 
    Henry Morgan ist 200 Jahre alt und unsterblich. Er altert nicht und jedes Mal, wenn er irgendwie zu Tode kommt, wacht er in einem nahe gelegenen Gewässer wieder auf … nackt. *gg*

    Genre: Gen
    Rating: PG
    Anmerkung der Autorin: Geschrieben für Antares‘ Allerlei-Challenge. Und ich habe es tatsächlich geschafft, auch die angegebenen Wörter unterzubringen. Leider wurde die FF aus Zeitgründen nicht gebetat, aber ich hoffe, es sind keine schwerwiegenden Fehler mehr drin. *g*
    Kurzinhalt: Auf der Suche nach einem brutalen Mörder stolpert Detective Martinez unverhofft über Hinweise, die ihr Leben gehörig durcheinander bringen.



    ~~~

    Die kleine Glocke über der Tür klingelte leise, als sie kurz nach neun Uhr am Samstagmorgen den Antiquitätenladen betrat. Sofort schlug ihr der typische Geruch alter Möbel entgegen, staubig und ein wenig muffig, aber angereichert mit so vielen Erinnerungen an vergangene Zeiten, dass sie unwillkürlich lächeln musste. Sie mochte diese Atmosphäre. Irgendwie schien die Hektik der Stadt vor der Ladentür Halt zu machen und jedem, der es wünschte, einen Moment der Ruhe zu gönnen.

    Unglücklicherweise war Detective Jo Martinez nicht hier, um einen dieser seltenen Momente zu genießen. Eher das Gegenteil war der Fall.

    In den letzten zwei Wochen hatte es in New York City insgesamt sechs brutale Morde gegeben, die sich derart ähnelten, dass sie von einem Serientäter ausgehen mussten. Der Mörder schien seine Opfer vollkommen willkürlich auszuwählen, nichts deutete auf eine Verbindung zwischen ihnen hin. Nur der präzise Dolchstoß mitten ins Herz und das eingeritzte „Y“ auf dem Brustkorb hatten sie alle gemeinsam.

    Und gerade hatte es einen neuen Mord gegeben – zumindest, wenn man der Zeugin Glauben schenken durfte. Die 81-Jährige war im Morgengrauen mit ihrem Hund spazieren gegangen und schwor Stein und Bein, den besagten Mord beobachtet zu haben. Das einzige Problem war, dass es keine Leiche gab …

    „Jesus Christ! Verdammt!“

    Das laute Fluchen, das im hinteren Bereich des Ladens ausgestoßen wurde, riss Jo aus ihren Gedanken.

    „Abe?“ Halb verdeckt von Möbeln und anderen obskuren Dingen erhob sich der alternde Inhaber und Henry Morgans Ersatzvater von einem Schreibtisch und stand wenige Augenblicke später vor ihr.

    „Oh, hallo Detective“, begrüßte er sie jovial. „Ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.“

    „Das könnte vielleicht daran liegen, dass Sie anderweitig beschäftigt waren“, erwiderte Jo augenzwinkernd und sah ihn gleichzeitig fragend an.

    „Was? Oh, ja das … ich … ach was, ich zeig es Ihnen einfach. Vielleicht können Sie mir sogar helfen“, sagte Abe und drehte sich schon wieder um in die Richtung, aus der er gekommen war, als er plötzlich stockte. „Ich meine, natürlich nur, wenn Sie einen Moment Zeit haben“, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu. „Sie wollen sicher zu Henry und wichtige Polizeidinge besprechen. Geht es um den Ypsilon-Mörder?“

    Natürlich waren die Zeitungen voll mit dem sogenannten Ypsilon-Mörder. Und natürlich hatte Henry, der ebenfalls in den Fall involviert war, mit Abe darüber gesprochen. Dennoch überraschte der ältere Mann sie immer wieder mit seiner ungemein schnellen Auffassungsgabe.
    Sie nickte lächelnd und sagte: „Schuldig in allen Punkten. Was aber nicht heißt, dass ich keine Zeit hätte, einem Freund bei seinem Problem zu helfen.“

    „Gut.“ Abe grinste erleichtert und die Lachfalten um seine Augen verzehnfachten sich.

    Sie folgte ihm in den hinteren Teil des Ladens, wo er direkt auf eine altertümliche Schreibmaschine zusteuerte. Sie konnte erkennen, dass die beiden Spulen für das Farbband ausgebaut waren. Offenbar hatte Abe das Farbband wechseln wollen und hing nun fest.

    „Ich habe es schon geschafft, das alte Farbband zu entfernen und das neue aufzustecken, aber ich bekomme es einfach nicht eingefädelt. Ähm, Sie haben schmalere Finger … vielleicht könnten Sie …?“ Ein wenig beschämt brach er ab.

    „Aber sicher“, antwortete Jo und setzte sich auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Glücklicherweise hatte ihr Großvater eine ähnliche Maschine besessen, auf der sie als Jugendliche nur zu gerne geschrieben hatte. Und er hatte ihr auch gezeigt, wie man das Farbband wechselte. So dauerte es nur wenige Minuten, bis sie das Band eingefädelt und die beiden Spulen wieder an ihren angestammten Plätzen befestigt hatte.

    „Fantastisch!“, rief Abe erfreut aus, als sie sich mit einem Siegerlächeln zu ihm umwandte. „Dann kann ich ja weiterschreiben.“

    „Was schreiben Sie?“ Neugierde – das Markenzeichen eines jeden guten Detectives – keimte in Jo auf.

    „Oh, es wird ein Buch über …“, begann Abe enthusiastisch, unterbrach sich aber sofort. „Nun, es ist nicht so wichtig, nur eine Spielerei … mal wieder die alten Knochen ein bisschen gelenkig machen“, fügte er hinzu und wackelte demonstrativ mit den Fingern.

    Natürlich war Jo klar, dass der alte Mann etwas verheimlichte und sich fast verraten hätte, aber sie spürte instinktiv, dass er sich nun wieder im Griff hatte und nichts preisgeben würde, was nicht für ihre Ohren bestimmt war. Nichtsdestotrotz war ihr Ehrgeiz geweckt. Vielleicht konnte sie auf anderem Wege noch etwas in Erfahrung bringen …

    „Okay. Aber Abe, meinen Sie nicht auch, dass Sie mit einem Computer besser bedient wären als mit diesem zugegeben sehr schönen, aber eben auch sehr alten Relikt?“, fragte sie und deutete dabei mit dem Kopf auf die Schreibmaschine. „Ich habe Sie eigentlich immer für den technisch fortschrittlicheren Menschen in diesem Haus gehalten. Ich meine, Henry schafft es ja noch nicht einmal, sein Smartphone richtig herum zu halten“, erklärte sie ihren Gedankengang scherzhaft und erntete dafür ein zustimmendes Lachen.

    „Sie haben ja völlig Recht, aber da dieses Werk, sollte ich es jemals fertigstellen, eben genau dieser Technik-verabscheuenden Person gewidmet ist, fand ich es adäquat, auch das entsprechende Werkzeug zu benutzen.“ Er hielt kurz inne und setzte dann hinzu: „Und nun habe ich Ihnen doch mehr verraten, als ich eigentlich wollte. Sie sind wirklich gut, Detective.“

    Dem Lächeln nach zu urteilen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, war er ihr nicht im Geringsten böse, doch sie bemerkte auch, wie er heimlich einen Stapel Papier auf dem Nachbartisch unter der Abdeckhaube der Schreibmaschine verschwinden ließ.

    „Möchten Sie vielleicht einen Tee, Detective? Oder einen Kaffee?“

    „Ein Kaffee wäre prima. Die Nacht war wieder mal viel zu kurz“, antwortete sie und erinnerte sich dabei an den ursprünglichen Grund ihres Besuches. „Wo steckt Henry eigentlich?“

    „Hm, jetzt, wo Sie es sagen … ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen. Aber kommen Sie doch erst mal mit in die Küche.“ Gemeinsam gingen sie die schmale Treppe hoch, die den Wohnbereich vom Antiquitätenladen abgrenzte. In der Küche angekommen, sagte Abe: „Der Kaffee in der Maschine sollte ganz frisch sein, ich hatte ihn aufgesetzt, kurz bevor Sie kamen. Becher stehen dort im Schrank. Ich werde mal sehen, ob Henry ansprechbar ist.“

    Jo hatte gerade zwei Becher mit dem wohl riechenden Gebräu gefüllt, als Abe mit einem nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht zurückkehrte.

    „Merkwürdig, er muss heute Morgen ungewöhnlich früh das Haus verlassen haben. Normalerweise bin ich am Wochenende immer der Erste, der aufsteht. Aber immerhin hat er eine Nachricht hinterlassen.“ Er reichte Jo einen Zettel mit einer handschriftlichen Notiz:

    Abe, ich bin auf eine neue Spur im Y-Fall gestoßen. Werde dieser umgehend nachgehen. Warte nicht mit dem Frühstück auf mich. Henry.

    „Ich wünschte, er würde mir wie jeder normale Mensch eine SMS schreiben und keine Zettelbotschaften verfassen, die er dann auf seinem Bett liegen lässt, wo ich sie erst finde, wenn es eh schon zu spät ist“, ereiferte Abe sich.

    Jo nickte geistesabwesend, während sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen einnistete. Was für eine Spur konnte das gewesen sein, die ihn früh morgens aus dem Haus trieb – und dazu noch ganz alleine? Und was wäre, wenn die alte Lady doch kein Hirngespinst gesehen hatte und Henry …

    Doch bevor sie sich weiter mit diesem beängstigenden Gedanken beschäftigen konnte, begann das Telefon in der Küche zu schellen. Mit zwei schnellen Schritten hatte Abe den Hörer abgenommen und meldete sich mit einem knappen „Ja?“. Dann schien er nur stumm den Worten des Anrufers zu lauschen, bis sich plötzlich ein Schatten über sein Gesicht legte. „Okay, ich bin sofort da. Soll ich das Übliche mitbringen?“ Eine kurze Pause. „Gut. Bis gleich.“ Danach legte er auf.

    „Ein Notfall?“, fragte Jo vorsichtig.

    „Ja, etwas in der Art“, entgegnete Abe ausweichend und griff nach einer Sporttasche, die – wie zufällig – neben der Tür stand. „Es tut mir leid, dass ich Sie kurz alleine lassen muss. Trinken Sie in Ruhe Ihren Kaffee aus, es wird nicht lange dauern.“

    „War das Henry?“, hakte sie einer Eingebung folgend nach.

    „Äh, ja …“, er stockte, als wollte er noch etwas hinzufügen, schüttelte dann aber nur halbherzig den Kopf und sagte: „Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt wirklich los. Bis gleich.“

    Und nur einen Augenblick später stand Jo alleine in der Küche, das flaue Gefühl in ihrem Magen eher noch stärker als zuvor. Sie dachte an Abes merkwürdige Reaktion, als Henry angerufen hatte, den düsteren Ausdruck auf seinem Gesicht. Er hatte nicht besorgt gewirkt – nicht so, als ob Henry etwas zugestoßen wäre, sondern eher so, als ob dies eine wiederkehrende Situation war, die Abe nicht billigte. Und von der niemand etwas wissen sollte. Was war es? Was war Henry Morgans Geheimnis? Wenn sie doch nur einen Hinweis hätte, irgendeinen Ansatzpunkt …

    Sie stutzte. Aber vielleicht hatte sie den ja ... ? Unwillkürlich blickte sie in die Richtung, in der sich die Schreibmaschine befinden musste, auch wenn sie diese von ihrem momentanen Standort aus natürlich nicht sehen konnte. Eine alte Schreibmaschine und ein versteckter Stapel Papier … war das des Rätsels Lösung?

    Sie zögerte einen Moment, doch dann kämpfte ihre beruflich bedingte Neugier das schlechte Gewissen nieder. Sie nahm ihren Kaffee und ging wieder nach unten in den Laden. Sie nahm die Abdeckhaube der Schreibmaschine hoch und legte somit Abes unfertiges Manuskript frei. Den Becher stellte sie vorsichtshalber auf der anderen Seite des Tisches, außerhalb der Gefahrenzone, ab. Das Deckblatt des Buches befand sich ordnungsgemäß oben auf dem Stapel:


    Mein Leben mit Doktor Henry Morgan
    - Eine (un-) endliche Geschichte -

    von

    Abraham ‚Abe‘ Morgan


    Jo runzelte verwirrt die Stirn. Hatte Henry nicht gesagt, dass sein Vater und Abe Geschäftspartner gewesen waren und Henry nach dem Tod seines Vaters nach New York gekommen war, weil dieser ihm seine Hälfte des kleinen Antiquitätenunternehmens vermacht hatte? Wie kam es also, dass sie beide – Abe und Henry – den gleichen Nachnamen trugen? Hatte Abe Henry tatsächlich adoptiert oder war es reiner Zufall? Nein. An Zufälle wollte sie in diesem Haushalt nicht glauben. Von daher musste es wohl Ersteres sein. Nur seltsam, dass beide Männer damit so hinterm Berg hielten.

    Sie nahm das Deckblatt herunter. Die nächste Seite beinhaltete das Vorwort:


    Vorwort


    Sehr geehrter Leser,

    man sagt, dass ein Mensch erst dann wirklich vergessen ist, wenn niemand mehr an ihn denkt, kein Lied mehr gesungen und kein Wort mehr geschrieben steht. Es mag eitel klingen, aber genau das ist der Grund, warum ich unsere – Henrys und meine – Geschichte niederschreibe.

    Meine Geschichte wird bald zu Ende sein. Nun, hoffentlich nicht wirklich ‚bald‘, aber doch sehr viel eher als Henrys. Und ich möchte, dass Henry sich an mich erinnert, an unser gemeinsames Leben, an die vielen Höhen und Tiefen und daran, wie dankbar ich ihm bin, für alles, was er für mich getan hat … bis in alle Ewigkeit.



    … bis in alle Ewigkeit. Das klang in ihren Ohren ein wenig zu pathetisch für Abe, aber seltsamerweise auch sehr signifikant. Sie las weiter.


    Sie fragen sich sicher, warum Henry sich nicht – auch ohne dieses Geschreibsel - bis an den Rest seines Lebens an mich erinnern sollte? Schließlich vergisst man nicht einfach einen lieb gewonnenen Menschen, auch wenn dieser nicht mehr unter uns weilt.

    Ich verspreche Ihnen, am Ende dieses Buches werden Sie es verstehen (natürlich nur dann, wenn Henry sich dazu durchringen kann, es zu veröffentlichen - andernfalls wird es nie etwas geben, das Sie verstehen müssten).

    Abe Morgan



    Der letzte Satz war kryptisch, aber gerade verständlich genug, um ihre Neugier – und wahrscheinlich auch die eines jeden Lesers – zu entfachen. Außerdem implizierte er, dass Abe nicht vorhatte, das Buch vor seinem Ableben zu publizieren, sondern Henry die Entscheidung dafür zu überlassen … vielleicht unabhängig davon, ob er noch lebte oder nicht.

    Immer mehr war Jo davon überzeugt, dass Doktor Henry Morgan ein Geheimnis umgab, das von ihr gelöst werden wollte. Und ein großer Schritt dorthin war dieses Manuskript. Wenn sie nur die Zeit hätte, es in Ruhe zu lesen. Doch dieser Gedanke war utopisch, denn vor ihr lagen sicher mehr als 200 Seiten eng beschriebenes Papier. Aber sie konnte wenigstens so lange lesen, bis Abe und Henry zurückkamen, sie durfte sich nur nicht erwischen lassen.

    Sie legte das Vorwort ebenfalls beiseite und begann das erste Kapitel zu lesen.



    1. Kapitel

    1945, irgendwo in Deutschland

    Natürlich erinnere ich mich nicht mehr, was damals genau geschah, schließlich war ich nur ein Baby zu dieser Zeit. Aber es war der Moment, in dem mein Leben begann, wirklich und wahrhaftig begann. Sie müssen wissen, ich bin jüdisch. Und selbst Babys waren nicht sicher vor den Nazis. Aber ich hatte Glück. Britische Soldaten konnten mich praktisch in der allerletzten Minute aus einem der Konzentrationslager retten.

    Zumindest ist es das, was mir Abigail, meine Adoptivmutter, immer erzählte. In Wirklichkeit war alles vielleicht viel weniger dramatisch, aber das werde ich wohl nie mehr erfahren.



    Jo schüttelte verwirrt den Kopf. Sie hatte anhand des Titels gedacht, dass Abe seine Geschichte mit Henrys Geburt oder seiner Ankunft in New York, nachdem Henrys Vater gestorben war, beginnen würde. Nicht, dass er sein eigenes Leben in Gänze erzählen wollte. Das komplizierte die Suche nach Hinweisen auf Henrys Geheimnis erheblich.

    Nervös schaute Jo auf die Uhr, um festzustellen, wie viel Zeit ihr möglicherweise noch blieb. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie sah, dass bereits eine knappe halbe Stunde seit Abes Aufbruch vergangen war. Hastig blätterte sie ein paar Seiten weiter in der Hoffnung, beim Überfliegen auf Henrys Namen zu stoßen. Und sie wurde schneller fündig als erwartet.


    3. Kapitel

    1956, Chopin und Jazz – zwei Welten

    Henry liebte schon von jeher die klassische Musik, verständlicherweise, leider vermochte er es nicht, diese Liebe auf mich zu übertragen. Und er hat es versucht, glauben Sie mir. Aber mein 11-jähriges Ich fand Chopin und Konsorten sterbenslangweilig, da brachten auch Henrys gut gemeinten Klavierstunden nichts. Nein, meine wahre musikalische Liebe galt und gilt dem Jazz. Seit dem Tag, an dem uns Red Holland aufsuchte, um seine Hand behandeln zu lassen und er mir den Zauber und die Freiheit des Jazz offenbarte.



    Jo las diesen Absatz einmal, zweimal und auch noch ein drittes Mal, doch mit jedem neuen Lesen machte er weniger Sinn. Sie starrte so intensiv auf die Worte vor ihren Augen, dass ihr beinahe schwindelig wurde und sie sich vorsichtshalber am Tisch festhielt, um nicht doch das Gleichgewicht zu verlieren. Doch ihrem inneren Gleichgewicht nützte das herzlich wenig, das war bereits völlig durcheinander. Wie um alles in der Welt passten diese Jahreszahlen, Abes damaliges Alter und ein Klavierstunden gebender Henry Morgan zusammen?

    Unfähig noch weiter auf die Buchstaben in ihrer Hand zu schauen, hob sie ihren Kopf und sah gerade noch rechtzeitig, wie sich Abe und Henry dem Antiquitätenladen näherten. Blitzschnell schob sie die einzelnen Seiten wieder zusammen und legte die Abdeckhaube zurück an ihren Platz. Danach hetzte sie die schmale Treppe hoch und kam just in dem Augenblick, als die kleine Türglocke klingelte, oben an. Um keinen unnötigen Lärm zu machen, schlich sie auf Zehenspitzen zurück in die Küche. Sie hatte sich gerade auf einen der Stühle gesetzt, als sie die Männer die Treppe heraufkommen hörte.
    Jo atmete noch einmal tief durch und wartete auf die Ankunft der beiden.


    ~~~


    „D…Detective Martinez!“ Henrys Stimme zitterte leicht, ob vor Überraschung oder aus einem anderen Grund konnte sie nicht sagen. Doch seine steife Körperhaltung ließ eher darauf schließen, dass Abe es versäumt hatte, ihn vorzuwarnen. Etwas, das seine nächsten Worte bestätigten. „Abe, könnte es sein, dass du vergessen hast zu erwähnen, dass sich Detective Martinez in unserer Küche befindet?“

    „Oh, habe ich das? Sorry“, entgegnete Abe und machte dabei keineswegs ein reumütiges Gesicht.

    „Abraham!“

    Obwohl in Jos Innerem noch immer ein fürchterlicher Aufruhr tobte, musste sie lächeln. Sie vermutete, dass Abe nicht einfach nur vergessen hatte zu sagen, dass sie hier war, sondern dass dies seine Art war, es Henry ein wenig heimzuzahlen, dass er sich kurzfristig hatte Sorgen machen müssen. Und sie fand, dass der liebe Doktor diese kleine Strafe verdient hatte.

    Außerdem verschaffte ihr das Geplänkel der beiden die nötige Zeit, um Henry eingehender zu betrachten. Er wirkte ein wenig erschöpft und sah beinahe so aus, als ob er gerade ein unfreiwilliges Bad genommen hätte. Seine Haare waren noch feucht und entgegen seines sonst so korrekten Auftretens trug er nur einen ausgewaschenen Jogginganzug und Turnschuhe – ohne Socken.

    „Henry, Sie sind doch nicht etwa schon wieder nackt geschlafwandelt und haben anschließend ein Bad im Hudson River genommen, oder?“ Sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als Henry sie daraufhin wie ein kleiner Junge, den man mit den Fingern im Bonbonglas ertappt hatte, anstarrte. Abe hingegen schien sich köstlich zu amüsieren. „Keine Sorge, ich werde schweigen. Aber Sie sollten wirklich mal was dagegen tun.“

    „Ich … ich werde mich umziehen gehen“, wich Henry einer Antwort aus. „Wenn ich richtig vermute, gibt es Neuigkeiten im Ypsilon-Fall.“

    „Ja“, erwiderte Jo schlicht und seufzte innerlich auf. Der Alltag hatte sie eingeholt. „Ich möchte, dass Sie sich einen vermeintlichen Tatort genauer ansehen.“

    „Gut, ich bin sofort zurück.“


    ~~~


    Wenig später saßen sie in Jos Dienstwagen. Henry hatte sich geduscht und umgezogen und trug nun wieder einen seiner vertrauten Anzüge, darüber seinen Mantel und einen Seidenschal um den Hals. Die Fahrt verlief überwiegend in einvernehmlichem Schweigen. Sie spürte, dass er nach den Geschehnissen am Morgen nicht zu Smalltalk, geschweige denn zu tiefsinnigeren Gesprächen aufgelegt war. Und sie gönnte ihm diesen Moment der Ruhe.

    An einer roten Ampel vibrierte ihr Handy dreimal kurz als Zeichen, dass sie eine neue Nachricht bekommen hatte. Sie holte es aus ihrer Manteltasche und las die weitergeleitete E-Mail:


    Ich weiß nicht, wie viel Sie gelesen haben, aber Sie haben hiermit meine ausdrückliche Erlaubnis, weitere Nachforschungen anzustellen und Henry Löcher in den Bauch zu fragen. Nur wäre es nett, wenn Sie das Manuskript vorerst nicht erwähnen würden.

    Henry braucht nämlich dringend jemanden außer mir, dem er sich anvertrauen kann. Und ich denke, dass Sie genau die Richtige für den Job wären. Auch wenn er es selbst noch nicht wahrhaben möchte, ich werde nicht ewig für ihn da sein können.

    Abe

    P.S. Das nächste Mal sollten Sie Ihren Kaffeebecher besser wieder mit zurück in die Küche nehmen.



    Sie lächelte. Damit hatte sie sich also verraten. Und was Henry betraf … nun, jeder Moment der Ruhe war irgendwann einmal vorbei.

    „Also, Henry, wie kommt es, dass Sie einerseits bei offenbar klarem Bewusstsein eine handschriftliche Nachricht verfassen, dann aber schlafwandelnd ihren Weg in den Hudson River finden?“



    --- Ende ---


    Chayiana, Januar 2015
    Geändert von Chayiana (11.01.2015 um 13:13 Uhr) Grund: Um einen Schlusssatz erweitert *g*

  2. Danke sagten:


  3. #2
    Lieutenant General Avatar von Antares
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    Ja das ist tatsächlich ein Fandom bei dem ich mit CD leben kann.

    Und die Idee, dass Abe ein Buch schreibt, als Erinnerung für sich selbst, für Henry, vielleicht auch für die Nachwelt und Jo Martinez kann ich mir sehr gut vorstellen. Es muss schon ein komisches Gefühl sein, von dem 'Jungen' in der Beziehung zum 'Alten' zu werden - und wenn man so etwas dann notiert, kann man vielleicht besser damit umgehen.

    Auch der Stil, in dem Abe anfängt passt ganz hervorragend zu dem Ton der Serie - genauso würde es wahrscheinlich klingen!

    Ich kann sehr gut verstehen, dass Jo die Gelegenheit ergreift, etwas mehr über Henry und seine Vergangenheit herauszufinden, denn bei den ganzen Andeutungen und Ungereimtheiten - nicht zuletzt seine ständigen Bäder im Hudson River - ist es ja nur verständlich, dass die Neugier inzwischen schon ganz schön an ihr nagt. *g*

    Sehr gut haben mir auch die letzten zwei, drei Absätze gefallen - sie hat ihre Tasse vergessen und damit weiß Abe jetzt Bescheid UND heißt es gut, dass sie es weiß. Womit wir wieder am Anfang wären - er sucht über das Buch hinaus, das er schreibt, noch jemanden, der Henrys Geschichte kennt. Und Detective Martinez scheint ihm da schon die geeignete Person für zu sein. Schön, dass er ihr diese SMS schreibt!

    Eine ganz tolle Umsetzung des Prompt mit einem ganz speziellen, noch nicht ganz fertigen Buch.

    Vielen Dank für diese wunderschöne Antwort auf meine Challenge Aufgabe!

    (Jetzt werde ich gleich mal schauen gehen, was AO3 so zu diesem Fandom hergibt.... *g*)

  4. #3
    There is good in you... Avatar von Chayiana
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    Vielen, vielen Dank fuer deine netten Worte!

    Es freut mich wirklich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat. Es ist doch immer wieder aufregend und spannend in einem neuen Fandom zu schreiben und es tut wirklich gut zu hoeren, dass ich wohl den Ton der Serie getroffen habe. *freu*

    Ja, ich denke auch, dass es fuer Abe ganz besonders merkwuerdig sein muss, wenn er so ueber sein Leben nachdenkt.

    Witzig ist auch, dass die Grundidee samt Ablauf quasi von Anfang an standen, aber ich wusste bis gestern nicht, wie ich die Geschichte enden lasse, ohne dass es abrupt oder unlogisch wird. Der vergessene Kaffeebecher kam mir echt erst kurz vor Schluss in den Sinn (obwohl er praktisch die ganze Zeit schon da stand ).

    Und Abe macht ja auch in der Serie mehr als deutlich, dass Henry sich endlich mal ein Herz fassen und Jo einweihen sollte. Manchmal bedarf es einfach einen Schubser in die richtige Richtung. *g*

    Aehm, und dann muss ich kleines Gestaendnis machen ...
    Nachdem ich mir die Story eben noch mal durchgelesen habe, ist mir eine klitzekleine Unstimmigkeit aufgefallen, die ich durch einen letzten, noch angefuegten Schlusssatz hoffentlich einigermassen bereinigt habe. Ich hoffe, das ist okay.

    Ansonsten noch mal vielen Dank fuer diese tolle Challenge, die mich seit Langem mal wieder inspiriert hat, etwas zu schreiben!

  5. #4
    Brigadier General Avatar von stargatefan74
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    Hallo? Du kannst doch jetzt nicht einfach aufhören!

    Die Idee, dass Abe ein Buch über seine und Henrys Geschichte schreibt, finde ich richtig schön. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Henry es jemals veröffentlichen würde.

    Da lässt sie einfach die Kaffeetasse dort stehen und verrät sich doch. Abe hat schon recht, Henry muss sich ihr anvertrauen und macht das hoffentlich auch bald.

    In der Serie ist er ja nun schon einige Male nur haarscharf dran vorbeigekommen, dass er auffliegt und ich denke, es ist besser, wenn er sie vorher irgendwie informiert, auch wenn sie ihm wohl niemals glauben würde ohne es zu sehen. Und dass er wirklich Angst hat, sich nochmals jemandem anzuvertrauen ist auch klar, nachdem, was ihm letztes Mal passiert ist.

    Hast du wieder sehr schön geschrieben.

  6. #5
    zigtausend Jahre alt ... ;-) Avatar von John's Chaya
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    Eine interessante Geschichte, aber von der Serie habe ich noch nie etwas gehört. Aber trotzdem hat sie mir gefallen. Ob Jo jemals alles erfahren wird? Vielleicht läuft die Serie ja irgendwann mal im Free-TV.

    Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein.

  7. #6
    Lieutenant General Avatar von Antares
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    Aehm, und dann muss ich kleines Gestaendnis machen ...
    Nachdem ich mir die Story eben noch mal durchgelesen habe, ist mir eine klitzekleine Unstimmigkeit aufgefallen, die ich durch einen letzten, noch angefuegten Schlusssatz hoffentlich einigermassen bereinigt habe. Ich hoffe, das ist okay.
    Jetzt sehe ich, was du meinst - aber das wäre mir nicht aufgefallen. Denn ich weiß nicht, kann man in schlafwandelndem Zustand denn nicht auch schreiben? *Keine Ahnung hab*

  8. #7
    There is good in you... Avatar von Chayiana
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    @stargatefan74
    Ups, sorry ... Und es tut mir auch leid, aber die Geschichte musste genau dort aufhoeren. Ich will doch der Serie nicht vorgreifen. *gg* Ich bin mir sicher, dass es nicht meht allzu lange dauert, bis Jo eingeweiht wird ... oder es eben selbst herausfindet.

    Und vielen, vielen Dank! Es freut mich, dass dir die Story gefallen hat. Aber du hast Recht, ich denke auch, dass Henry - so ganz von alleine - das Buch wohl nicht veroeffentlichen wuerde, aber wer weiss ... vielleicht bekommt er ja bald den richtigen Schubs. *g*


    @John's Chaya
    Vielen Dank! Es freut mich, dass dir die Geschichte auch gefallen hat, obwohl du die Serie nicht kennst.
    Ich kann sie nur empfehlen, falls sie irgendwann mal auf die deutschen Bildschirme kommen sollte. Bis dato weiss Jo zwar noch nicht bescheid, aber die Hinweise haeufen sich auch in der Serie ... und ich hoffe, dass es bald ein paar erleuchtende Momente fuer sie gibt. *g*


    @Antares
    Nun ja, das waere wohl auch ne Moeglichkeit, aber irgendwie glaube ich nicht daran, dass man solche Nachrichten beim Schlafwandeln schreibt.

  9. Danke sagten:


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