Titel: Der Tote in der Wiese (1/3)
Autorin: Antares
Fandom: Grimm
Genre: Gen
Rating: PG
Inhalt: Zwei Spaziergänger finden einen Toten in einer Blumenwiese – doch ist er wirklich dort gestorben? Bis der Fall gelöst ist, lernt Nick mehr über Käseherstellung als er je für möglich gehalten hätte.
Beta: Besten Dank an meine Betaleserin Tamara!
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‚Zu schön zum Sterben’, ging Detective Nick Burckhardt durch den Kopf, als er neben der Leiche niederkniete. Natürlich meinte er nicht den Verstorbenen, denn der sah ziemlich durchschnittlich aus. Aber das Wetter war an diesem Tag eine wahre Pracht und er spürte die Sonne auf seinen Rücken brennen. Auf seiner schwarzen Lederjacke erzeugte sie schnell eine angenehme Wärme und für einen Moment erlaubte sich Nick, daran zu denken, dass das jetzt der erste schöne Tag seit … seit einer Ewigkeit war. Die letzten Wochen waren alle typisches Portland-Wetter gewesen: regnerisch, nebelig und kühl, mit Temperaturen, die kaum den zweistelligen Bereich erklommen.
Doch mit der Sonne war plötzlich der Frühling regelrecht explodiert und mit einem raschen Blick stellte Nick fest, dass der Tote in einer Wiese voller Frühlingsblumen lag: große gelbe Blumen, einige rote, kleine mit blauen Blüten und am Rande der Wiese ausgedehntes Weiß. Leider hatte er keine Ahnung, wie die ganzen Blumen hießen, aber selbst ohne Namen konnte er ihre Schönheit und verschwenderische Blütenpracht genießen.
„Haben wir schon eine Identität?“, hörte er seinen Kollegen Hank Griffin den Polizisten fragen, der zuerst vor Ort gewesen war.
„Der Tote hatte einen Führerschein bei sich. Frank Sloane, einundvierzig Jahre, wohnt im Hafenviertel.“ Der Polizist reichte den Führerschein an Griffin. „Wir haben es schon gecheckt, er hat keinen Eintrag in die Polizeiakten. Alles deutet auf einen Raubmord hin, denn er hatte weder eine Brieftasche, noch Geld, Handy oder eine Uhr bei sich. Den Führerschein haben wir auch nur gefunden, weil er für den Täter unbemerkt aus der Tasche gefallen sein muss und jetzt unter dem Opfer lag.“
Nick schaute sich die Leiche näher an. Frank Sloane war circa einsfünfundsiebzig groß, leicht untersetzt, hatte dunkle Haare, etwas grobe Gesichtszüge und einen kleinen Kinnbart, der ihn nicht unbedingt attraktiver machte. Er war sehr durchschnittlich in eine Jeans, ein blaues Polohemd und einen blau-weiß gestreiften Kapuzenpulli, der an einigen Stellen mit Blut getränkt war, gekleidet.
„Was war die Todesursache?“ erkundigte sich Nick bei der Medizinerin, die gerade die Fingernägel des Toten untersuchte.
„So wie es bisher aussieht, ist er mit mehreren Messerstichen getötet worden. Er ist verblutet.“ Sie zeigte auf blau-rote Flecken an seinen Handgelenken. „Er war offensichtlich gefesselt, als man auf ihn eingestochen hat und er hat sich gewehrt. Aber irgendwann im Verlauf des Kampfes ist er dann wohl zu Boden gegangen – sehen Sie hier die Gras- und Erdflecken an den Ellenbogen? – und entweder kurz zuvor, oder als er bereits am Boden lag, ist ihm ein Stich ins Herz versetzt worden, an dem er dann gestorben ist.“
„Ist die Fundstelle die Stelle, an der er getötet wurde? Er sieht … irgendwie arrangiert aus“, stellte Nick fest. So, als ob sich jemand etwas zu viel Mühe gegeben hatte, ihn möglichst natürlich aussehen zu lassen.
„Stimmt. Man hat ihn wohl hierher transportiert, die Spurensicherung sucht schon nach Fuß- und Reifenspuren. Aber das hier ist ein öffentlicher Park. Selbst wenn er an dieser Stelle an den Wald grenzt, ist hier wahrscheinlich immer noch zu viel los, um klare Ergebnisse zu bekommen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber vielleicht kann ich an den Fasern seiner Kleidung, oder hier an diesem Erdfleck, etwas genauer bestimmen, wo man ihn umgebracht hat. Ich schicke Ihnen den Bericht dann rüber, sobald ich mehr weiß.“
„Okay, danke.“ Nick erhob sich und warf noch einen nachdenklichen Blick auf den Toten. Irgendetwas störte ihn, ohne dass er den Finger drauflegen konnte. Aber als Polizist hatte er gelernt, dass es keinesfalls immer nur Hunger war, weil man mal wieder eine Mahlzeit verpasst hatte, wenn sein Magen zu ihm sprach. Genauso oft war es auch ein … Bauchgefühl, das kein erfahrener Polizist leichtfertig abtat. Im Endeffekt zählten vor Gericht nur Fakten, aber in diesem frühen Stadium der Ermittlungen konnte man sich durchaus erlauben, seinem Bauchgefühl zu folgen. Nur leider sagte das Nick dieses Mal nicht, was er als nächstes tun sollte, nur, dass er gerade irgendetwas gesehen hatte, das er noch nicht in die richtige Schublade sortiert hatte. Er seufzte. Vielleicht würde ihm noch einfallen, was es war. Jetzt würde er erst mal hören, wer ihren Toten gefunden hatte.
Mr. und Mrs. Caradelli, ein Rentnerehepaar, das seinen fetten, kleinen Mops ausgeführt hatte, hatten den Toten entdeckt, als sie nach ihrem Hund gesucht hatten, der ohne Leine durch den Park gestreunt war.
„Sie wissen schon, dass hier Leinenzwang herrscht, oder?“, fragte Hank und fügte noch belehrend hinzu: „Mit den Kinderspielplätzen hier und der Picknickwiese dort drüben ist es nicht erlaubt, Hunde frei laufen zu lassen.“
„Aber unser Carly tut doch niemanden was“, empörte sich die ältere Dame und kraulte den seibernden Mops hinter dem Ohr.
„Das mag sein, aber es geht um mögliche Verunreinigungen“, entgegnete Nick. „Sie würden ja auch nicht wollen, dass Ihre Enkel Hinterlassenschaften im Sand finden, oder?“
„Wir haben keine Enkel“, meldete sich jetzt Mr. Caradelli zu Wort. „Unsere Tochter ist in dieser Hinsicht eine große Enttäuschung für uns. Können Sie sich vorstellen, dass sie uns klipp und klar gesagt hat, dass noch zu jung dafür ist? Ich war zu dem Zeitpunkt schon …“
„Mr. Caradelli“, unterbrach Hank rigoros, „als Sie den Toten entdeckten, lag er da genauso wie jetzt?“
„Selbstverständlich! Ich habe doch nichts angerührt. Dem sah man ja sofort an, dass da nichts mehr zu machen war. Mausetot, habe ich zu meiner Frau gesagt.“
„Das hat er. Und Carly hat ihn auch nicht berührt, nur gebellt hat er die ganze Zeit, so hat es ihn aufgeregt. Und sehen Sie, Detective, der Tote, das ist etwas, worum Sie sich kümmern sollten und nicht darum, ob unser kleines Hündchen mit oder ohne Leine läuft.“ Missbilligend schaute sie dazu Hank an, der sich mit einem Augenrollen zu Nick umdrehte.
„Ich denke, dann haben wir hier keine weiteren Fragen mehr“, erklärte Nick die Befragung mit einem ganz winzigen Lächeln für beendet. Er war immer wieder erstaunt, wie stoisch manche Menschen mit dem Tod anderer Menschen umgingen, wenn sie nicht direkt betroffen waren. Da wurde es auf einmal wichtiger, dass Hundchen fast einen Herzkasper bekommen hatte, weil der Tote die Unverschämtheit besessen hatte, direkt hier im Park herumzuliegen, als sich Gedanken darüber zu machen, wer von dem Tod wohl wie betroffen war. Aber immerhin hatten sie die Polizei geholt, das war auch schon mal etwas, und sich nicht gesagt, dass sie jetzt gar keine Zeit hatten und dass das bestimmt jemand anderes machen würde.
Himmel, was war er heute wieder miesepetrig, musste sich Nick eingestehen. Aber die Sache mit Juliettes Gedächtnisverlust setzte ihm doch mehr zu, als er sich anmerken ließ. Obwohl, wenn er so an Monroes Blicke dachte, bei dem er inzwischen eingezogen war, vielleicht ließ er doch mehr nach außen dringen, als er annahm. Vielleicht hätte er früher mit Juliette über die Grimm-Sache versuchen sollen zu reden? Aber irgendwie hatte ihm da das Vertrauen gefehlt, was ja nur heißen konnte, dass sie vielleicht doch nicht so das Vorzeigepaar waren, als das manche ihrer Freunde sie sehen wollten. Gut, es war nicht leicht zu verdauen, dass der eigene Freund auf „Monsterjagd“ ging und selbst auch über ein paar Fähigkeiten verfügte, die nicht alltäglich waren, aber hätte Juliette nicht …?
„Nick, hast du noch Fragen?“
Dem Tonfall nach hatte Hank ihn das nicht zum ersten Mal gefragt und so zwang sich Nick, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Hank schaute ihn auch schon fragend an und so erklärte er, dass er keine Fragen mehr habe, verabschiedete sich von den Caradellis und nach einem letzten Blick auf den Toten, der seltsam unpassend in dem Blumenmeer wirkte, machte er sich mit seinem Kollegen auf den Weg zu ihrem Wagen.
***
Sie fuhren in die Polizeistation, wo sie auf die Ergebnisse der forensischen Untersuchung warteten und derweil versuchten, mit Hilfe polizeiinterner Quellen und des öffentlichen Internets etwas über ihr Opfer herauszufinden.
Es dauerte nicht lange, da deutete Hank mit einem Finger auf den Bildschirm und sagte: „Schau mal hier, in der Portland Post von vorgestern ist ein kurzer Bericht über Frank Sloane, der für heute, den ersten Mai, um 16 Uhr zu Arbeitsniederlegungen und einer Protestkundgebung vor den Banville-Werken aufgerufen hat.“ Hanks Finger übersprang ein paar Zeilen, dann fuhr er fort: „Mr. Sloane will damit an die Maifeiern in anderen Ländern anknüpfen, die den ‚Tag der Arbeit’ am 1. Mai feiern.“ Hank runzelte die Stirn. „Warum feiern die den denn schon am ersten Mai und nicht wie wir am Labour Day?“
„Vielleicht sollten Sie die Frage anders herum stellen, Detective“, bemerkte Captain Renard, der neben den Schreibtischen der beiden Detectives stehen geblieben war. „Warum haben nur die USA und einige andere anglophone Länder den 1. Mai als ‚Tag der Arbeit’ zugunsten des ersten Montags im September aufgegeben?“
„Vielleicht sollten wir uns aber in diesem Augenblick auch nichts dergleichen fragen“, mischte sich Nick lächelnd ein. „Denn was meint ihr wohl, wo Frank Sloane als Abteilungsleiter tätig war?“ Triumphierend schaute er den Captain und Hank an.
„In den Banville-Werken?“, fragte Hank und rutschte mit seinem Stuhl so, dass er auf Nicks Bildschirm schauen konnte. „Könnte es da womöglich einen Zusammenhang geben? Wollten die mit aller Macht diesen Streik und die Demonstration verhindern?“
„Fahren Sie raus und befragen Sie Henry Banville“, meinte der Captain und wandte sich zum Gehen.
„Henry Banville? Sie kennen ihn also?“ Nick schaute den Captain an.
„Wer kennt ihn nicht?“, erwiderte Renard. Das Erstaunen war ihm anzuhören.
„Sollte ich wissen, wer das ist?“ Nick runzelte die Brauen.
„Henry Banvilles Spezialkäse? Noch nie davon gehört? Der beste Ziegen-, Schafs-, Stuten- und Vollmilchkäse, den man in Portland kaufen kann. Banvilles Schafskäse mit Feigenmousse, oder sein Ziegenkäse mit Rumrosinen? Haben Sie den noch nie probiert?“
„N…ein.“ Zögerlich schüttelte Nick den Kopf. Er war ganz überrascht von der Begeisterung, mit der sein ansonsten durch nichts aus der Ruhe zu bringender Captain sprach.
„Sie sollten ihn probieren“, erklärte Renard bestimmt. „Wenn Sie Glück haben, bietet er Ihnen vielleicht welchen an.“ Er verschwand in seinem Büro.
„Hast du schon mal davon gehört?“, fragte Nick seinen Partner. Er fühlte sich gerade ein klein wenig belehrt.
„Nein, aber ich bin - genau wie du - auch mehr der Typ, der Käse in einzeln verpackten Scheiben oder zum Streichen aus der Tube isst.“
„Genau.“ Nick grinste. „Und es gibt tatsächlich Käse am Stück?“, fragte er mit übertriebenem Erstaunen, als er nach seiner Jacke griff.
„Lass es uns herausfinden.“
***
Henry Banville empfing sie in seinem Büro, das in dem Produktionsbereich der Banville-Farm untergebracht war. Nachdem sie das im Jahrhundertwende-Stil erbaute Wohnhaus der Banvilles passiert hatten, waren sie an ausgedehnten Weiden und etlichen Stallungen vorbeigekommen, ehe sie nach gut drei Kilometern die eigentliche Produktionsstätte für den Banville-Käse erreicht hatten. Ein zweigeschossiges Verwaltungsgebäude mit angeschlossenen Produktions- und Lagerhallen.
Banvilles Büro war wohnlich eingerichtet, ein großer Schreibtisch ganz aus Holz, vier bequem aussehende Besuchersessel aus dunklem Leder, die sich vor einem großen Fenster um einen schweren, tiefen Holztisch gruppierten. Das fast bodentiefe Fenster gab den Blick auf die umliegende Landschaft frei, die mit ihren grünen und blühenden Wiesen viel mehr Lust auf Spazierengehen denn auf Mordermittlungen machte. Nicks Blick ging zu drei etwas altmodischen Firmenpostern hinter Glas, die noch aus der Generation von Henrys Großvater stammen mussten und landete dann auf der Anrichte auf der linken Seite des Raums. Dort standen etliche gerahmte Familienphotos, die niedliche Babys, Tiere und drei langsam heranwachsende junge Mädchen zeigten. Hier wurde Familienidyll pur inszeniert. Nick wusste nicht, ob es echt war, oder einfach für einen erfolgreichen Geschäftsmann dazu gehörte.
Nick wandte seine Aufmerksamkeit dem Firmenchef zu, der sich vom Schreibtisch erhoben hatte. Etwa fünfzig Jahre alt, leicht ergraute Haare, Brille, sportlich-dynamisches Auftreten, hatte er dennoch etwas von einem englischen Landjunker an sich, wie er da in seiner dunkelbraunen Cordhose und seiner Strickjacke mit hellem Hemd und passendem Schlips vor ihnen stand. Nach der Begrüßung lud er sie ein, in der Sitzecke Platz zu nehmen.
„Mr. Banville“, Nick schob ihm ein Bild von Frank Sloane rüber, „ist dieser Mann bei Ihnen beschäftigt?“
„Ja, das ist Frank. Frank Sloane aus der Buchhaltung. Ein sehr netter und gewissenhafter Mann. Ist etwas nicht in Ordnung?“ Er legte das Bild vor sich auf den Tisch.
„Stimmt es, dass Sloane für heute eine Arbeitsniederlegung und Demonstration vor dem Tor angekündigt hat?“, erkundigte sich Hank.
„Das stimmt. Ich wundere mich, wo er steckt, denn in einer Stunde sollte es losgehen – ihm ist doch nichts passiert, oder?“ Seine bis dahin sehr gelassene Körperhaltung wurde auf einmal etwas verkrampfter und er blickte die Detectives nacheinander an.
„Wo waren Sie gestern Abend zwischen zweiundzwanzig und zwei Uhr nachts?“, fragte Nick statt einer Antwort.
„Also ist ihm etwas passiert, wenn ich ein Alibi brauche“, seufzte Mr. Banville. „Ich bin gestern mit meiner Frau bei dem jährlichen Treffen der Bio-Erzeuger in Seattle gewesen. Wir haben das Hotel, in dem die Veranstaltung stattfand, ungefähr um Mitternacht verlassen. Und wir waren gegen kurz vor drei wieder zurück. Ich kann Ihnen gerne die Einladung mit allen Kontaktdaten zeigen. Und jetzt sagen Sie mir bitte, was mit Frank ist.“
Nun kam der unangenehme Part, aber auch der Part, der enorm viel über einen Verdächtigen aussagte. Manchmal reichte es schon, von dem Mord zu sprechen und man bekam ein Geständnis, als ob der Täter auf diese Gelegenheit gewartet hätte. „Mr. Sloane ist heute am Morgen tot in einem Park in Portland aufgefunden worden.“
„Oh, nein. Das ist ja schrecklich. Was ist passiert? Ein … Raubüberfall?“ Banville hob in einer machtlosen Geste die Hände.
„Dazu können wir noch nichts sagen.“ Okay, Banville gehörte also nicht zu denen, die ihre Schuld so schnell wie möglich sühnen wollten. Wenn er es gewesen war. Falls er es gewesen war, das Alibi klang ja schon mal nicht schlecht. Natürlich mussten sie es noch überprüfen, aber wenn so viele Menschen zur Bestätigung bereitstanden, war es meist echt. Einen konnte man kaufen oder erpressen, aber die versammelten Bio-Erzeuger? Eher nicht. „Schildern Sie uns doch einfach, was für ein Mensch Frank Sloane gewesen ist.“
Mr. Banville sammelte sich sichtlich, dann sagte er mit ruhiger Stimme: „Frank Sloane arbeitet jetzt seit ungefähr acht Jahren für mich in der Lohnbuchhaltung und Personalabteilung. Ich bin bisher immer sehr zufrieden mit ihm gewesen, er ist bei seinen Kollegen beliebt, hilfsbereit und sehr an unserem Unternehmen interessiert. Das geht sogar so weit, dass er bereit ist, auch mal am Wochenende in anderen Abeilungen auszuhelfen, wenn Not am Mann ist. Er hat auch schon interessante Vorschläge unterbreitet, die weit über sein Aufgabenfeld hinausgehen.“
„Und warum dann diese Streikandrohung?“, fragte Hank mit gerunzelten Brauen. „Das kann doch nicht in Ihrem Sinne gewesen sein.“
„Natürlich nicht. Wir sind ein Familienunternehmen, schon seit vier Generationen. Mein Urgroßvater hat sich Anfang des 20. Jahrhunderts entschieden, den Käse nicht nur für den Eigenbedarf herzustellen, sondern ihn auch in größerem Stil zu verkaufen. Und seither sind wir sehr gut ohne Gewerkschaften gefahren. Die endgültigen Entscheidungen liegen immer noch in der Hand der Familie – und das ist auch gut so. Ich zahle übertariflich, habe werkseigene Kinderbetreuung für meine knapp siebzig Angestellten. Ich gewähre drei Tage bezahlten Urlaub mehr als man sonst bekommt. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich gutes Personal habe.“ Es war klar, dass er sehr stolz auf sein Unternehmen war.
Dann seufzte er. „Frank hatte vor ein paar Monaten diese fixe Idee mit der Gewerkschaft. Was hätte ich tun sollen? Verbieten? Dann hätten sich sicher einige gefunden, die ihm allein schon aus diesem Grund hinterher gelaufen wären. So habe ich ihn machen lassen.“ Mr. Banville erlaubte sich ein kleines Lächeln. „Ich denke nicht, dass er sich heute einer wahren ‚Streitmacht’ gegenüber gesehen hätte, wenn es soweit gewesen wäre. Denn ich habe ganz diskret durchblicken lassen, dass mir seine Pläne nicht gefallen. Nichts weiter. Kein Verbot, keine Drohung. Aber ich glaube, das hätte gereicht.“
„Wir werden es wohl nie rausfinden“, seufzte Hank.
Banville schob eine Zeitschrift, die auf dem Tisch lag, zur Seite. „Warum nicht? Seine möglichen Anhänger wissen ja noch nicht, dass er nicht kommt. Wir können schauen, wer sich zur vereinbarten Zeit einfindet. Das hätte ich ja sowieso getan.“
„Sie wollen mit anderen Worten sagen, dass es für Sie nicht den geringsten Grund gegeben hätte, Frank Sloane auszuschalten?“, fragte Nick pro forma, hatte aber schon deutlich den Eindruck, dass es wirklich so war.
Mr. Banville schüttelte betrübt den Kopf. „Genau. Franks Fehlen wird sich im Gegenteil schnell unangenehm bemerkbar machen. Und das in so schwierigen Zeiten.“
„Was meinen Sie damit?“
„Die üblichen Sorgen, wenn sie im Agrarbereich tätig sind. Es gibt immer wieder Tierkrankheiten, die manchmal die Milchversorgung schwierig machen. Und seit drei, vier Jahren haben wir es mit einer starken Konkurrenz zu tun: Marisa Johansson. Sie hat angefangen, unsere Käsesorten zu imitieren und zu Kampfpreisen anzubieten. Dabei gibt sie sich nicht mit den personalintensiven Wochen- oder Bauernmärkten ab, sondern sie drängt in die Delikatessenläden und sogar in die Supermärkte. Das ist nicht gut für das Renommee und auch nicht für die Preisbildung, denn da sie sehr maschinenintensiv produziert, ist sie einfach billiger als wir. Natürlich leidet die Qualität erheblich darunter – aber das ist für viele Kunden zweitrangig. Auf dem Papier erfüllt sie die Bedingungen, um ihre Produkte mit dem Bio-Label schmücken zu können, aber von dem Geist, der einer solchen Produktion zu Grunde liegen sollte, ist sie weit entfernt.“
Hank räusperte sich: „Was habe ich denn unter ‚Geist’ zu verstehen?“
„Kommen Sie, ich zeige es Ihnen“, forderte er die Detectives auf.
Sie verließen sein Büro, gingen ein paar Schritte und dann standen sie auf einem Flur mit einer über vier Meter breiten Glasfront, die ihnen einen guten Überblick über die blitzsauberen Produktionshallen bot, in denen sie etliche Etappen der Käseherstellung beobachten konnten. Banville erklärte ihnen in wenigen Sätzen, wie aus der angelieferten Milch sein einzigartiger Käse wurde.
Danach wandte Henry Banville sich an Hank. „Um auf Ihre Frage zurückzukommen, was den ‚Geist’ ausmacht. Nehmen wir den Tierschutz. Ein Beispiel wäre, dass ich mich vergewissere, dass die Bauern, von denen ich die Milch beziehe, ihre Tiere unter guten Voraussetzungen halten und sie nicht mit chemischen Stoffen voll pumpen. Dann wäre da Nachhaltigkeit. Ich bevorzuge Milch aus der Region und verarbeite nicht welche, die schon Tausende von Kilometern hinter sich hat. Dass ich den Käse in umweltverträglichen Verpackungen anbiete und nicht jede Scheibe Käse einzeln in Plastik schweiße … es gibt so viel Punkte, wo man ansetzen kann.“
„Und das macht Mrs. Johansson nicht?“, vergewisserte sich Nick. Das war ein interessantes Konzept, über das er noch nie nachgedacht hatte. Wie Hank so spöttisch bemerkt hatte, kam sein Käse tatsächlich in einzeln verpackten Scheiben daher und war sicher voller Chemie. Nicht, dass ihn das bisher gestört hatte. Aber Mr. Banville eröffnete eine ganz neue Sichtweise.
„Richtig. Für sie sind Bioprodukte einzig und allein ein rasch wachsender Markt, auf dem sich noch viel Geld verdienen lässt. Mehr nicht.“ Banville ging mit ihnen wieder ins Büro zurück.
Einen Zusammenhang zu Frank Sloanes Tod konnte Nick noch nicht erkennen, aber vielleicht hatte sich der gewissenhafte Angestellte mit ihr angelegt? Wegen dieser Art von Geschäftspolitik? Nick wusste genau, wen er als nächstes kennen lernen wollte. Aber vorher musste er noch etwas mehr über das Opfer in Erfahrung bringen.
„War Mr. Sloane verheiratet? Oder hatte er Angehörige, die wir verständigen können?“ Wahrscheinlich hatte Wu das inzwischen auch schon herausgefunden, aber es war immer interessant zu sehen, wer am Arbeitsplatz als nächster Vertrauter galt.
„Er war nicht verheiratet, und über sein Privatleben hat er auch nicht allzu viel verlauten lassen. Ich weiß nur, dass er gerne gereist ist, denn er hat fleißig Postkarten an seine Kollegen geschrieben. Darüber hinaus ist er wohl einmal im Monat mit einigen Kollegen zum Bowlen gegangen – aber mehr weiß ich wirklich nicht über ihn. Vielleicht kann Mr. Koruzov, sein Sekretär und Stellvertreter, Ihnen da weiter helfen.“
„Gut. Dann würden wir auch noch gerne mit Ihrem Geschäftsführer und Ihrem Produktionsleiter sprechen.“ Nick erhob sich.
„Mit dem Produktionsleiter haben Sie schon gesprochen, das bin nämlich ich. Und die Geschäftsführerin ist meine Frau Laura, sie kümmert sich um alle verwaltungstechnischen Dinge. Aber im Moment …“
Es klopfte an der Tür und schon im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen und ein junges Mädchen stürmte ins Zimmer. „Papa, ich … oh, du hast Besuch, das wusste ich nicht. Entschuldigung. Ich … ich …“ Unsicher schaute sie von ihrem Vater zu den beiden Detectives.
„Wir waren sowieso gerade im Aufbruch“, versicherte ihr Nick.
„Oh, prima.“ Sie machte noch einen Schritt auf ihren Vater zu, legte ihm eine Hand auf den Unterarm und schaute ihn bittend an. „Du, Papa, darf sich Ellinor mal für zwei Stunden dein Auto leihen? Leslie hat vier ganz kleine Lämmer daheim und wir wollten sie uns kurz anschauen.“
„Und warum fragt Ellinor mich dann nicht selbst?“, erkundigte sich ihr Vater und schüttelte den Kopf.
Aber in dem Moment wusste Nick, warum Ellinor die jüngere Schwester geschickt hatte: Vor seinem Blick verwandelte sie sich in … einen außerordentlich putzigen Hundewelpen, der den Vater mit bittenden Augen anschaute. Mein Gott, war sie niedlich! Selbst Nick als Grimm hätte so einem Blick nur schwer widerstehen können! Er musste ein Grinsen unterdrücken als er sah, dass es Mr. Banville nicht viel anders ging.
Für eine Sekunde verwandelte er sich in etwas, das ziemlich genau wie ein Schäferhund aussah, dann knurrte er, verwandelte sich zurück und sagte mit einem Seufzen. „Also schön, zwei Stunden. Aber dann steht das Auto wieder im Hof – und es ist dieses Mal nicht bis auf den letzten Tropfen leer gefahren, habe ich das jetzt klar genug gesagt?“
„Ja, du bist ein Schatz.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und Banville suchte für sie die Schlüssel aus seiner Schublade und gab sie ihr.
Mit einem „Einen schönen Tag noch“, hüpfte sie aus dem Zimmer.
„Das war Emma, meine Jüngste“, erklärte Banville ihnen. „Ellinor, meine Älteste, hat seit einiger Zeit den Führerschein und seitdem ist kein Auto mehr vor ihr sicher. Sie hat gerade ihre letzten Prüfungen auf der High School geschrieben und bis zum Ende des Sommers eindeutig zu viel freie Zeit. Ich sollte sie nicht so verwöhnen – aber ich will nicht, dass sie mitbekommen, wie es um die Firma steht.“ Er fuhr sich mit der Hand durch den Nacken.
„Wie dem auch sei, meist nimmt sie das Auto von meiner Frau, aber wie ich Ihnen erklären wollte, ehe ich unterbrochen wurde, meine Frau holt gerade ihren Wagen wieder aus der Werkstatt. Gestern Abend ist uns der Scheibenwischermotor kaputt gegangen, glücklicherweise nur rechts, so dass wir noch heimfahren konnten.“
„In Ordnung. Wenn sich noch ein Anhaltspunkt bieten sollte, sprechen wir mit Ihrer Frau dann zu einem späteren Zeitpunkt. Dann würden wir uns jetzt nur noch gerne ganz kurz mit Mr. Koruzov unterhalten.“
Mr. Koruzov passte wunderbar in die Firmenphilosophie der Banvilles, denn er trug ein gebatiktes Leinenhemd, eine helle Leinenhose und Ledersandalen ohne Strümpfe. Auch er war voll des Lobes über seinen – ehemaligen – Chef und zeigte sich ehrlich bestürzt, dass er ein so überraschendes Ende gefunden hatte. Er machte auf Nick nicht den Eindruck, dass er wild darauf wäre, den frei gewordenen Posten zu übernehmen, denn er seufzte schon jetzt, dass er gar nicht wusste, wie er nun die Arbeit schaffen sollte. So klang nicht unbedingt jemand, der am ersehnten Ziel war, und deshalb schloss ihn Nick fürs Erste aus der Gruppe der Verdächtigen aus. Koruzov gab ihnen noch die genaue Adresse von Marisa Johanssons Büro, dann verabschiedeten sie sich von ihm.
Auf dem Rückweg kamen sie gerade rechtzeitig am Firmentor vorbei, um zu sehen, dass sich mal gerade eine Handvoll Leute versammelt hatte, denen Mr. Banville jetzt erklärte, dass Frank Sloane leider Opfer eines Verbrechens geworden war. Nick erklärte auf Nachfrage noch, in welchem Park sie ihn gefunden hatten, dann verweigerte er alle weiteren Auskünfte mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen.
***
„Banville hatte Recht, was das mangelnde Interesse an einer Gewerkschaft betraf“, stellte Nick fest, nachdem Hank auf die Zufahrtsstraße eingebogen war.
„Es sei denn, er hatte die Angestellten doch eindringlicher davor gewarnt, dort aufzukreuzen, als er das uns gegenüber zugegeben hat.“
„Machte er auf dich den Eindruck?“
„Nein“, gestand Hank ein. „Mal sehen, was diese Johansson über ihn sagt.“
TBC ....