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Thema: [Sherlock] Das Wiedersehen

  1. #1
    Airman First Class Avatar von Gwelwen
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    Standard [Sherlock] Das Wiedersehen

    Titel: Das Wiedersehen
    Autor: Gwelwen
    Fandom: Sherlock (BBC)
    Genre: Familie/Freundschaft
    Charakter(e)/Pairing(s): Sherlock, John, Harry
    Rating/Warnings: P12
    Staffel/Spoiler: spielt nach der 2. Staffel
    Anmerkung des Autors:
    Disclaimer: "Sherlock" und die darin vorkommenden Personen gehören Sir Arthur Conan Doyle, der BBC, den verantwortlichen Produzenten und Autoren sowie allen anderen Anspruchsinhabern. Jegliche Ähnlichkeiten zu lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Kurzinhalt:
    Was macht man, wenn der beste Freund plötzlich und völlig unerwartet verstirbt? Wenn man dabei ist, wie er Selbstmord begeht? Wenn man es einfach nicht glauben kann, dass er tot ist? - Und wie kann dieser Freund ihm erklären, dass er seinen Tod inszeniert hat? Warum er sich monatelang nicht gemeldet hat, dann aber plötzlich sehr lebendig vor ihm steht? - Vor diesen Fragen stehen John und Sherlock. Und während sie sich diesen Fragen und noch vielen weiteren stellen, ist noch jemand anwesend: Harry, Johns Schwester.



    Szene 1

    Es war nicht gerade die beste Lage, in der das Taxi hielt. Und das Haus, vor dem es zum Stehen kam, hatte seine besseren Tage bereits vor 2 Jahrhunderten gesehen. Das sah er mit einem Blick. Noch größer wurde der Kontrast, wenn er das neu gebaute, strahlend weiße Apartmenthaus auf der anderen Straßenseite betrachtete, das hier wie so viele andere aus dem Boden gestampft wurde und damit das alte Aussehen der Docklands für immer veränderte.
    Nachdem er dem Taxifahrer den Fahrpreis und ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte, stieg er aus und blickte an der Fassade hinauf. Früher einmal hatten die roten Backsteine im Sonnenlicht geleuchtet. Nun waren sie grau. Dunkel lag der Schmutz der Jahrzehnte auf ihnen. Von den Fensterrahmen blätterte der Putz und die Dachrinne über ihm hing schief in der losen Verankerung. Bei Regen tropfte das Wasser im freien Fall die fünf Etagen hinab auf den Bürgersteig. Der grüne, glitschige Algen- und Moosteppich auf den gebrochenen Platten zu seinen Füßen zeugte davon, dass die Dachrinne schon eine ganze Weile defekt war – was darauf schließen ließ, dass es dem Hauseigentümer egal war. Vermutlich stand er bereits mit ein paar Investoren in Kontakt, die auf dem Grundstück eine ebensolche Monströsität wie auf der anderen Straßenseite errichten wollten.
    Er trat die wenigen Schritte zur Tür – eine alte, schwere Eichentür, die von der salzigen und feuchten Luft so verzogen war, dass sie nicht mehr richtig schloss. Zufrieden lächelnd drückte er die Tür auf. Er wollte nicht klingeln. Jedenfalls nicht von hier unten.
    Das Treppenhaus lag im Dämmerlicht vor ihm und zeigte ähnliche Verfallserscheinungen wie die Fassade draußen. Die Farbe der Wände war wohl einmal weiß gewesen. Doch nun war sie gelblich-grau und hatte an einigen Stellen größere dunkle Flecken. Hie und da war sogar der Putz von der Wand geplatzt und gab den Blick auf die blanken Mauern frei. Die Treppe war aus dunklem Holz und wies überall Kratzer und Dellen auf. Nur der Handlauf war über die Jahre von den vielen Händen glatt poliert worden und glänzte im schwachen Licht. Selbst die schachbrettartig angeordneten hellen und dunklen Fliesen auf dem Boden, die von einem schmalen dunklen Rand eingefasst wurden, hatten ihren Glanz verloren und wurden von tiefen Kratzern geziert. Deutlich konnte er den Staub in der Luft tanzen sehen und dankte im stillen der spärlichen Beleuchtung, die den größten Teil des Schmutzes, der hier über allem lag, verbarg.
    Aus den Türen rechts und links der Treppe drangen Stimmen. Irgendwo war ein Fernseher an. In einer anderen Wohnung wurde sich heftig gestritten. Dicker Zigarettenqualm hing in der Luft und vermischte sich mit anderen Gerüchen: Moder, Schweiß, Staub, Essensgerüche von mindestens drei Kontinenten.
    Dies alles realisierte er innerhalb eines Atemzuges. Noch während die Haustür hinter ihm wieder den vergeblichen Versuch unternahm, ins Schloss zu fallen, schritt er zur Treppe und erklomm das erste Stockwerk. Immer schneller stieg er weiter hinauf, bis er schließlich in der 5. Etage angekommen war. Ein kurzer prüfender Blick reichte, um zu wissen, an welcher Tür er klingeln musste. H. Watson stand auf dem provisorisch angebrachten Klingelschild.
    "Wir sind alle nur Menschen - Maschinen stehen in der Küche!" (Danny Wilde)

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  3. #2
    First Lieutenant Avatar von Zeson
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    Das fängt ja vielversprechend an.

    Du hast eine wunderbare Art, mit der Beschreibung der Örtlichkeiten die gewünschte Stimmung zu erschaffen. Bewundernswert! (Wie Du weißt, hab ich mit so etwas eher Probleme ... )

    Ich kenne zwar Sherlock (die Serie) nicht, aber ich bin darauf gespannt, wie es weiter geht.
    Geändert von Zeson (27.04.2013 um 13:51 Uhr)
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    Möge alles, was Ihr mir wünscht, tausendfach auf Euch zurückfallen.

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  4. #3
    First Lieutenant Avatar von sethos
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    Wundervoll, ich bin nicht mehr alleine hier.
    Ein sehr schöner Anfang und ich bedauere wirklich das es nur die Möglichkeit gibt FFs scheibchenweise einzustellen. Aber so bleibt mir die Freude auf mehr.

  5. #4
    Airman First Class Avatar von Gwelwen
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    Vielen Dank an Evaine, sethos, Zeson und all den anderen Lesern. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele - trotz des fremden Fandoms - hier reinklicken. Schließlich hat Sherlock gar nichts mit SiFi zu tun... Doch da habe ich wohl falsch gedacht und frage mich nun, warum ich nur so lange gezögert habe!

    Zeson, vielen, vielen Dank für deinen lieben Kommentar. Ich habe immer etwas Angst, mich zu sehr in meinen Beschreibungen zu verheddern... Hier habe ich den Faden also nicht verloren!
    (Ich kann dir Sherlock übrigens nur empfehlen. Die Serie ist spannend und sehr gut gemacht. Und eine klitzekleine Verbindung mit Stargate (Dem Film) gibt es auch: Die Musik wurde in beiden Fällen von David Arnold komponiert. - Am 08.05. um 23:05 Uhr kommt übrigens im WDR der letzte Teil der 2. Staffel, auf den ja auch meine Story aufbaut.)

    Auch dir sethos danke ich. Ich bin mal gespannt, wie dir, als Kenner der Serie, die Entwicklung meiner Story und vor allem der Charaktere gefällt.

    So, nun will ich euch nicht länger warten lassen. Hier also die nächste Szene....


    Szene 2

    Auf sein Klingeln rührte sich zunächst nichts. Dann hörte er Schritte, die langsam näher kamen. Der Schüssel wurde umständlich umgedreht und endlich ging die Tür auf.
    „Was wollen Sie denn hier?“ Die junge Frau blickte ihn abweisend an.
    Sie trug abgetragene Jeans und eine karierte, weite Bluse, deren Ärmel sie hochgekrempelt hatte. Ein paar kleine rote Punkte an ihrer Armbeuge fielen seinem geschulten Auge auf. Einzelne, kürzere Strähnen ihrer dunkelblonden Haare hatten sich aus ihrem lose gebundenen Zopf befreit und fielen ihr ins erhitzte Gesicht. Unter den Augen, deren Lider deutlich geschwollen waren, lagen dunkle, tiefe Augenringe. Ihre Hände zitterten, als sie sich unter seinem prüfenden Blick die losen Haarsträhnen hinter die Ohren schob.
    „Sie müssen Harry sein.“ entgegnete Sherlock und drängte sich an ihr vorbei in die Wohnung. Sie roch nach Hochprozentigem und säuerlichem Erbrochenen. Er lächelte spöttisch. „Einmal Alkoholiker – immer Alkoholiker. Aber nun auch noch harte Drogen? Als John's Schwester hätte ich Sie nicht für so dumm gehalten!“
    Die Wohnung sah so aus, wie er es erwartet hatte. Die Möbel waren alt und zerschlissen. Auf dem kleinen quadratischen Couchtisch standen neben diversen Pappschachteln mit kalten Essensresten leere Bier und Whiskyflaschen. Auch unter den Tisch waren zwei Flaschen gerollt. Auf dem grau gestreiften Sofa lagen aufgeschlagene Zeitschriften und Zeitungen. Und auf dem Boden waren weitere verteilt. Aus einigen waren kürzere oder längere Artikel säuberlich ausgeschnitten worden.
    Die kleine Küchenzeile mit Herd, Spüle und Kühlschrank, die sich von ihm aus hinter dem Wohnzimmer an der Fensterfront befand, war mit Geschirr, Kochtöpfen und einer großen Einkaufstüte aus braunem Papier vollgestellt. Auf dem Küchentisch, der davor stand und das Wohnzimmer von der Küche abtrennte, türmten sich weitere Zeitschriften, Zeitungen und Bücher.
    Die grün-graue Tapete wies zahlreiche hellere Quadrate und Rechtecke auf – dort, wo die Bilder des Vormieters gehangen hatten. Harry hingegen hatte kein einziges Bild an die Wand gehangen. Die einzigen persönlichen Gegenstände waren drei Photos, die auf dem Sideboard neben dem alten Röhrenfernseher standen: Ihre Eltern, John in seiner Uniform und Harry und John in Kindertagen.
    Harry hatte bei seinen Worten die Lippen fest aufeinander gepresst. Nervös fingerte sie in der Tasche ihrer Jeans nach etwas, fand es und umfasste es fest. Sie ließ die Musterung ihrer Wohnung stoisch über sich ergehen. Doch als Sherlock auf die Tür neben der Couch zuging, die ins Nebenzimmer führte, trat sie ihm schnell in den Weg. „Was wollen Sie hier?“ wiederholte sie ihre Frage. Sie musste ihren Kopf heben, um in Sherlocks Gesicht zu sehen, der direkt vor ihr stehen geblieben war.
    Sherlock stutzte: „Ist das nicht offensichtlich? Ich möchte einen alten Freund besuchen!“
    „Als ob ein Psychopath Freunde hat!“ schnaufte Harry abfällig und trat einen Schritt zurück.
    „Soziopath wäre das richtige Wort!“ korrigierte Sherlock gelangweilt. „Wenn ich ein Psychopath wäre, müssten Sie jetzt Angst um Ihr Leben haben. Obwohl, in Ihrem Zustand würden Sie die Gefahr, in der sie dann schweben würden, wohl kaum realisieren. - Was hat eigentlich Ihr Bruder dazu gesagt, dass sie mal wieder rückfällig geworden sind?“
    „Ich denke, sie sollten gehen!“ Ihr Blick war erstaunlich klar. „Ich werde ihm sagen, dass Sie hier waren.“
    „Nein, das werden Sie nicht!“ Sherlock lächelte wissend. „Sobald ich die Wohnung verlassen hätte, würden Sie es vergessen. Nicht wegen des Alkohols, der ihre Gedanken vernebelt – sondern weil sie mich verachten. Und darum werde ich hier bleiben. Die Verachtung beruht übrigens auf Gegenseitigkeit! Und nun lassen Sie mich vorbei.“
    Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Tür. Sherlock ging unbeirrt auf sie zu und Harry wich solange zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Tür stieß. Schnell schob sie sich vor den Türgriff, den Sherlock gerade ergreifen wollte. „Tun Sie sich und John und Ihrer Freundschaft einen Gefallen, und gehen Sie jetzt!“ drängte sie leise.
    Sherlock blieb direkt vor ihr stehen. Wieder stieg der säuerliche Alkoholdunst in seine Nase. Es verwirrte ihn ein wenig, dass Harry so beharrlich blieb. Doch er wollte sich nicht länger, als unbedingt erforderlich, mit ihr beschäftigen. Seiner Meinung nach hatte dieses ganze Hin und Her schon viel zu lange gedauert. Daher machte er einen Schritt zurück. „Oh, ich werde meinem besten Freund einen Gefallen tun. Sogar einen Großen. Und um den müssen Sie mich gar nicht groß bitten.“ Er wandte sich zur Wohnungstür.
    Aus den Augenwinkeln sah er, dass Harry aufatmend von der Tür weg trat. Blitzschnell drehte er sich um, trat an ihr vorbei und ergriff den Türknauf. „Unter den gegebenen Umständen wird es für John nur gut sein, dass er zurück in unsere Wohnung auf die Bakerstreet zieht. Dann können Sie in Ruhe ihr unbedeutendes Leben wegwerfen.“
    Mit Schwung öffnete er die Tür und erstarrte.
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  6. Danke sagten:


  7. #5
    First Lieutenant Avatar von Zeson
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    Auch diese "2. Szene", wie Du es nennst, gefällt mir sehr gut. Wieder webt deine Beschreibung ein Bild und man ist plötzlich mitten drin im Geschehen. Man meint förmlich, den Geruch wahrzunehmen und hat das verlotterte Aussehen der Wohnung direkt vor Augen.

    Außerdem bist Du wahrlich nicht der erste Autor, die sich in Beschreibungen "verlieren" würde. Ich denke da nur an den berühmten Karl May, der seitenlange Beschreibungen von Landschaften hinlegen konnte, ohne diese jemals gesehen zu haben ... *zwinker*

    Was Cliffhanger angeht, bist Du auch nicht ohne. Ich hoffe nur, dass es diesmal nicht so lange dauert, bis wir erfahren, wie es weitergeht.

    Was die Serie anbelangt: WDR ist bei mir so weit hinten angesiedelt bei den Programmen, dass ich da kaum mal reinsehe (ich wohne immerhin in Bayern und hab daher BR weiter vorne angesiedelt). Und Mittwoch Abends läuft "Sea Patrol" ...
    Diesen Mittwoch werde ich zu der Zeit evtl. noch im Film "Into Darkness" sein - in Düsseldorf. Falls nicht, bin ich sicher ziemlich beschäftigt damit, Leute wiederzusehen, die ich ein ganzes Jahr nicht getroffen habe - it's FedCon-time

    In diesem Sinne: Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
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  8. #6
    Airman First Class Avatar von Gwelwen
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    Vielen Dank Evaine, Zeson und all den anonymen Lesern.

    Zeson, ich hoffe, du hattest eine unterhaltsame FedCon. Vielleicht schaffe ich es nächstes Jahr auch einmal, dabei zu sein... Aber aus dem Schneider bist du noch nicht! Sherlock wird bestimmt auch mal auf BR gezeigt! *zwinker*

    Eigentlich wollte ich die nächste Szene schon letzte Woche hochladen. Doch dann wollte mein Internet nicht so, wie ich wollte... Na ja - Technik halt... Aber jetzt bin ich wieder mit dem Rest der Welt verbunden und werde euch nicht weiter warten lassen!


    Szene 3

    Sherlock schlug eine dichte Wolke aus abgestandenem Schweiß und Hochprozentigem entgegen. Die Rollos waren herunter gelassen und nur ein schmaler Streifen Tageslicht fand seinen Weg in den Raum hinein.
    Vollständig bekleidet und unrasiert lag John auf dem Bett, dass neben der Tür stand, und schnarchte leise.
    „Was haben Sie getan?“ Fassungslos blickte Sherlock auf die halbleere Whiskyflasche, die neben John's Hand auf dem Bett lag.
    „Dachten Sie, Sie könnten einfach nach so vielen Monaten zurück kommen und alles wäre beim Alten?“ entgegnete Harry hinter ihm. „Ihnen mag das alles nichts ausgemacht haben, aber John... er hat Sie sterben sehen! Er hat Sie begraben und an Ihrem Grab geweint!“
    „Und Sie haben nichts besseres zu tun gehabt, als ihm Alkohol zu geben?“ Sherlock spie die Worte aus, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
    „Er ist erwachsen! Er braucht mich nicht! - Das hat er nie!“
    „Er ist nicht der Typ, der trinkt!“
    Hinter ihm blieb es still.
    Sherlock nickte. Dann ging er in den Raum hinein. Auch hier lagen auf dem Boden aufgeschlagene Zeitungen. Er stieg über sie hinüber und trat auf die gegenüber liegende Seite des Raumes. Hier stand ein alter Ohrensessel, eine Stehlampe und ein kleines rundes Tischchen. Doch was ihn wirklich anzog, waren die Papierschnipsel, die an der Wand hingen. Um sie besser betrachten zu können, schaltete er die Stehlampe ein.
    Als das Licht aufblinkte, erstarrte er. Vor ihm erhob sich ein buntes Mosaik aus Fotos, Skizzen, Zeitungsartikeln und Notizen, das nahezu die komplette Wand einnahm. Im Zentrum des Mosaiks hing ein Foto von ihm selbst, eine Skizze des Platzes, an dem er offiziell gestorben war und der Obduktionsbericht. Die anderen Mosaikstücke gehörten zu seinem Leben, dass er nach dem fingierten Tod geführt hatte.
    Bewundernd ließ Sherlock seinen Blick über all dies gleiten. John war nicht untätig gewesen. „Er hat mich gesucht!“ sagte er mehr zu sich selbst. Ohne den Blick von der Wand zu nehmen, zog er sich Schal und Mantel aus und warf sie auf den Sessel.
    „Hatten Sie etwa gedacht, dass John sich einfach zurückzieht und abwartet? Er hat monatelang nach Ihnen gesucht. Und auch jetzt noch in seinen klaren Augenblicken versucht er es weiter.“
    „Er war nahe dran!“
    Harry lachte bitter auf. „Nun tun Sie nicht so überrascht. Sie waren es doch, der dafür gesorgt hat, dass alle seine Versuche ins Nichts geführt haben. Wenn er eine Tür aufgestoßen hat, haben Sie ihm die nächste vor der Nase zugeknallt. Sie haben ihn damit in den Wahnsinn getrieben! Sie sind krank! Sie haben seine Freundschaft nicht verdient!“
    „John ist doch erwachsen. Er kann somit sehr gut selbst entscheiden, wen er sich zum Freund nimmt und wen nicht!“ spottete Sherlock. „Und denken Sie wirklich, dass Ihre Meinung bei seiner Entscheidung auch nur das Gewicht einer Daunenfeder einnehmen würde?“
    „Könnte ich Sie irgendwie davon überzeugen, später wieder zu kommen?“ fragte Harry mit unverhohlener Ungeduld in der Stimme.
    Sherlock beachtete ihre Frage nicht. Seine Aufmerksamkeit galt Johns Wand. Vielleicht konnte sie ihm bei seinem letzten Problem auf die Sprünge helfen. Denn noch hatte er nicht alles klären können.
    „Na schön!“ brummte Harry resigniert. „Aber lassen Sie John wenigstens so lange in Ruhe, bis er von alleine aufwacht.“
    Sherlock betrachtete die Zeitungsartikel. Einer von ihnen fiel ihm besonders ins Auge. Der Artikel trug die Überschrift 'Der Fall Sherlock Holmes' und begann mit der fett gedruckten Frage 'Wie sehr darf man über den Tod eines kriminellen Hochstaplers trauern?'. Neben dem Text, der ausführlich auf seinen Selbstmord einging, war ein Foto von seiner Beerdigung abgelichtet. Vorne am Grab standen die Menschen, die ihm am meisten etwas bedeuteten: John, Mycroft, Mrs. Hudson, Molly und Lestrade.
    Sherlock wandte seinen Blick davon ab und fokussierte sich auf ein paar handgeschriebene Notizen. John hatte hier mit Datum und Zeitangaben seine Suche chronologisch festgehalten.
    „Ich hätte gerne einen Tee!“ rief er über seine Schulter. Tee würde ihm beim Nachdenken helfen.
    „Den müssen Sie sich schon selber machen. Teebeutel sind im Küchenschrank rechts oben!“ antwortete Harry völlig unbeeindruckt hinter ihm.
    „Teebeutel?“ presste Sherlock angewidert heraus. Er drehte sich zu Harry um, die mit einer braunen Tüte im Arm in der Tür stand. Es war die Tüte, die Sherlock bei seinem Betreten der Wohnung in der Küche hatte stehen sehen. Erst jetzt begriff Sherlock, dass Harry nicht die ganze Zeit hinter ihm stehend auf seine Antwort gewartet hatte sondern bereits vor einer Weile den Raum verlassen haben musste.
    „Ja genau: Teebeutel!“ Harry lächelte ihn säuerlich an. „Für eine Leiche genau richtig!“ Sie drehte sich mit einem Ruck von ihm weg und ging zur Wohnungstür. Nur zu deutlich konnte Sherlock bei jeder ihrer Bewegungen ein leises Klirren vernehmen, das aus dem Inneren der Tüte kam – verursacht von dem aneinander schlagen leerer gläserner Hohlkörper.
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  9. Danke sagten:


  10. #7
    Airman First Class Avatar von Gwelwen
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    So, nun wird es aber Zeit, mal wieder etwas für euch zu posten. Aber zunächst geht mein Dank an Evaine und Zeson, sowie an euch andere fleißige Leser!


    Szene 4

    Die Tür schlug hart ins Schloss. Sherlock trat ans Fenster und öffnete es einen Spalt breit, um frische Luft herein zu lassen. Dann schob er das Rollo ein kleines Stück zur Seite, so dass er hinunter auf den tristen Hinterhof blicken konnte. Auf allen vier Seiten von den hohen Häuserfronten eingerahmt, war es dort unten zu jeder Zeit finster. Ein paar Fahrräder lehnten an der Hauswand rechts von ihm, während links ein Torbogen hinaus auf die Straße führte. Ihm direkt gegenüber standen mehrere Abfallcontainer. Alte, leere Kartonagen lagen neben ihnen. Ansonsten war der Hinterhof leer.
    Es dauerte eine ganze Weile, doch dann sah er Harry in den Hinterhof treten. Sie ging zu den Abfallcontainern und entledigte sich der Tüte und deren Inhalt. Als sie zurück zum Haus trat, blickte sie an der Fassade zu ihm hinauf.
    Sherlock wusste nicht, ob sie ihn sehen konnte. Er blieb reglos stehen und wartete, bis sie zurück ins Haus getreten war. Erst dann ließ er das Rollo los und trat zurück zu dem Mosaik an der Wand. Er rückte sich den Ohrensessel so hin, dass er sowohl John als auch die Wand gut im Auge hatte. Dann setzte er sich, stützte seine Ellenbogen auf die Armlehnen und legte beide Hände flach aneinander – wie zum Gebet.


    Szene 5

    Er wusste nicht, wie lange er so dasaß. Und es war für ihn auch nicht wichtig. Natürlich bemerkte er, dass die Sonnenstrahlen, die am Rande des Rollos ins Zimmer drangen, ihre Intensität und ihre Richtung veränderten. Auch hörte er, wie Harry wieder zurück in die Wohnung kam. Er registrierte, dass sie im Nebenzimmer hin und her ging, vernahm den hellen Klang von Glasflaschen, die aneinander stießen, das Rascheln von Papier, das Klappern von Geschirr.
    Doch seine Gedanken waren ganz woanders. Sie wanderten zurück zu dem Tag, an dem er die Entscheidung traf, vorläufig zu verschwinden. Diese Entscheidung hatte er nicht ganz freiwillig getroffen. Genauer gesagt hatte sein Erzfeind Moriaty ihm keine andere Möglichkeit gelassen. Er hatte verschwinden – sogar sterben müssen.
    Er blickte zu John. Er war dabei gewesen, als er gesprungen war. Hatte alles – jedenfalls das, was er sehen sollte – gesehen. Und vorher hatte Sherlock ihm noch am Telefon eine Beichte abgelegt. Das er wirklich der Schwindler war, für den ihn alle anderen – dank Moriatys Intrige – hielten.
    In den vergangenen Monaten hatte er sich oft gefragt, ob John den Glauben an ihn ebenso verloren hatte, wie so viele andere. Er hatte es auf der einen Seite gehofft. Er wollte nicht, dass John ihm nachtrauerte. Er wollte, dass er sein Leben weiterführte und glücklich war. Genauso wie alle anderen, die ihm nahe gestanden hatten: Mrs. Hudson, Lestrade und Molly. Um sie zu schützen hatte er den Weg gewählt, den er in den letzten Monaten gegangen war.
    Und nun hatte er den Beweis direkt vor seinen Augen: Sein Freund John Watson hatte den Glauben an ihn nie aufgegeben. Er war überzeugt, dass er kein Schwindler war. Und er hat nach ihm gesucht. Und dabei war er sehr gründlich vorgegangen. Bei seiner Suche hatte er Hinweise entdeckt, von denen Sherlock nicht gedacht hatte, dass man sie so einfach finden konnte.
    „Nicht schlecht John!“ murmelte er. „Du hast gelernt, dein Gehirn zu benutzen!“


    Szene 6

    John bewegte sich. Seit einigen Minuten hatte sich sein Atemmuster geändert. Er würde nun bald aufwachen. Wahrscheinlich mit einem gewaltigen Kater. Und wie würde er es aufnehmen, seinen alten, eigentlich vor Monaten verstorbenen Freund lebend im Sessel sitzen zu sehen? Auf diese Frage hatte Sherlock keine Antwort. Und er war froh, dass Harry diesen ersten Zusammenstoß – denn dass es zu einem kommen würde, davon war Sherlock überzeugt – nicht mitbekommen würde. Sie hatte vor einer ganzen Weile die Wohnung mit einem gefüllten Wäschekorb verlassen.
    „Oh Mann!“ John erhob sich schwerfällig und hielt sich den Kopf. Mit dem Rücken zu Sherlock blieb er auf der Bettkante sitzen. Wie ein Häufchen Elend. „Wie war das doch gleich: Man soll den Tag damit beginnen, mit dem man auch geendet hat?“ murmelte er rau und tastete die Bettdecke hinter sich mit der Hand ab. Es dauerte nicht lange, bis er den Hals der Whiskyflasche mit den Händen umfing. Er öffnete den Verschluss und prostete dem Foto in der Mitte der Wand zu. „Prost mein Freund – wo auch immer du dich gerade befindest!“ Dann nahm er einen großen Schluck und verschloss die Flasche wieder.
    „John, willst du deinem Freund nichts anbieten?“ erkundigte sich Sherlock und machte sich innerlich auf den bevorstehenden Vulkanausbruch gefasst.
    Johns Rücken versteifte sich bei seinen Worten. „Harry?“ Er drehte sich langsam zur Tür.
    „Sie ist nicht hier!“
    John stand steif auf und sah sich im Zimmer um. Als sein Blick an dem sitzenden Sherlock hängen blieb, erstarrte er. Ungläubig weiteten sich seine Augen. „Das Glaube ich nicht!“ Er rieb sich die Augen und blinzelte. Doch als er wieder zu dem Sessel schaute, sah er immer noch Sherlock dort sitzen. Dann blickte er finster auf die Whiskyflasche. „Weiße Kaninchen hätten auch genügt...“
    „Wie bitte?“ erkundigte sich Sherlock, obwohl er jedes Wort verstanden hatte.
    John stellte sich gerade hin und schob das Kinn etwas vor. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich nicht in etwas reinreden lassen wollte. „Sie sind Tot!“
    „Ich fühle mich eigentlich recht lebendig!“ konterte Sherlock amüsiert.
    „Das ist nur das, was mein Unterbewusstsein sich wünscht!“ entgegnete John heftig. „Sie sind Tot! Das muss ich akzeptieren!“ Aufgeregt fing er an, hin und her zu laufen.
    „Dieses Wandmosaik sagt aber etwas anderes!“
    John erstarrte mitten in der Bewegung. Dann drehte er sich so ruckartig um, dass ihm schwindelig wurde und er sich am Bettrahmen abstützen musste. „Meine Therapeutin sagt, dass ich endlich damit aufhören muss. Ich muss zurück in die Realität kommen. Ich muss die Vergangenheit ruhen lassen.“ Er trat an die Wand heran und fuhr mit seiner Hand über die Papierstücke.
    „Dann sollten Sie die Wand leer räumen!“
    Wieder schob sich Johns Kinn vor. „Das kann ich nicht. Irgend etwas ist damit. Sherlock lebt! Das muss er einfach...“
    „Eben haben Sie zwei mal gesagt, dass ich tot bin!“ spottete Sherlock über den so offensichtlichen Widerspruch.
    „Das passt: Der Geist meines Unterbewusstseins verspottet mich!“ John blickte Sherlock finster an.
    Der wurde augenblicklich ernst. Er stand auf und stellte sich neben John. „Erklären Sie mir, warum sollte ich überlebt haben, wo doch alle offiziellen Stellen mich für Tod halten? Vielleicht können wir gemeinsam die Wahrheit finden.“
    Er wusste, dass es nicht richtig war, John in dem Glauben zu lassen, dass er nur eine Halluzination, ein Trugbild seines von Alkohol eingenebelten Unterbewusstseins war. Dies zögerte die Konfrontation nur heraus. Doch auf der anderen Seite reizte es ihn. Schließlich liebte er Spiele über alles.
    Nein, das traf den Kern eigentlich überhaupt nicht. Es ging ihm nicht um das Spiel. Jetzt, wo er nach so langer Zeit wieder mit John sprach, wurde ihm bewusst, wie gern er ihn hatte. Er brauchte ihn nicht nur als Kollegen, sondern als Freund, als Vertrauten. Die Freundschaft zu ihm bedeutete ihm mehr, als er jemals erwartet hatte. Und nun stand diese Freundschaft an einem Scheideweg. Würde John ihm vergeben können?
    John hatte seine Hoffnung zwar nie aufgegeben – trotz seiner Therapeutin und vermutlich auch seiner Schwester Harry. Doch war es gut möglich, dass seine Hoffnung nicht nur in Wut, sondern auch in Hass und Unverständnis umschlagen würde, wenn er begriff, dass Sherlock wirklich neben ihm stand. Und dies konnte das Ende ihrer gemeinsamen Zeit bedeuten – das Ende ihrer Freundschaft.
    Dass John ihn nun für eine Halluzination hielt, kam Sherlock daher ganz gelegen. Nun blieb ihm noch die Gelegenheit, ihm die ausstehende Offenbarung möglichst schonend beizubringen. Obwohl sich natürlich die Frage stellte, wie man seinem trauernden Freund schonend beibringen konnte, dass man doch nicht tot war.
    Hoffentlich kam Harry nicht so bald zurück.
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  12. #8
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    Vielen Dank Zeson für das "Danke"-Drücken. Für dich und alle die, die wissen wollen, wie es weiter geht, hier die nächste Szene:


    Szene 7

    „OK, fangen wir mit dem an, was offiziell bekannt ist.“ begann John. „Laut offiziellem Polizeibericht haben Sie Selbstmord begangen, indem Sie vom Dach des Pathologie-Gebäudes gesprungen sind, weil Sie es nicht ertragen konnten, dass Sie als Schwindler überführt wurden. - Es gibt unser Telefongespräch und mich als Augenzeugen. - Bei der Obduktion wurden die typischen Verletzungen festgestellt: zahlreiche Knochenbrüche und Quetschungen innerer Organe.“
    „Scheint ein klarer Fall zu sein!“
    „Wir sprechen hier von Ihnen: Sherlock Holmes, Consulting Detective...“
    „... dem Schwindler, der kleine Kinder entführt, um sie dann in einer spektakulären Suchaktion wieder zu finden!“
    John drehte sich unwillig zu Sherlock um. „Als mein Unterbewusstsein möchte ich Sie bitten, mich nicht mit derartigem Blödsinn in meiner Argumentation zu unterbrechen!“
    „Ich denke, der echte Sherlock würde dies tun! Und er würde diese Argumente nicht als blödsinnig betrachten!“
    „Sie sind aber nicht der Echte!“
    „OK!“ Sherlock trat zurück und setzte sich wieder in den Sessel. „Also ich höre!“
    „Wie ich schon sagte: Sie sind Sherlock Holmes, ein Genie. Und ich kann einfach nicht glauben, dass Sie dort ohne einen Plan hochgegangen sind. Sie mussten davon ausgehen, dass Moriarty Sie vollkommen zerstören wollte. Ihr Selbstmord wäre für ihn das I-Tüpfelchen gewesen. Und das wären Sie nie bereit gewesen, ihm zu geben. Sie wären nicht freiwillig gesprungen. Niemals! Zumal Sie sich nie Gedanken darüber gemacht haben, wie andere über Sie denken. Das die Zeitungen Sie als Schwindler titulierten, hätte niemals ausgereicht, um Sie zum Springen zu drängen. Im Gegenteil! Sie hätten alles darangesetzt, das Gegenteil zu beweisen!“
    „Ich bin aber gesprungen! Sie haben mich gesehen. Und es war niemand bei mir zu sehen, der mich dazu gedrängt haben könnte.“
    John fing wieder an, auf und ab zu gehen. „Ja, ich habe Sie springen sehen. Ich habe den Aufprall gehört. Doch habe ich nicht gesehen, wie Sie unten aufgekommen sind. Ich stand so, dass ich keinen direkten Blick darauf hatte. Weil – weil Sie mich wieder zurück geschickt haben. Sie wollten nicht, das ich näher komme.“
    „Es ist sehr unwahrscheinlich, einen Sprung von dem Dach eines vierstöckigen Gebäudes zu überleben.“
    „Es sei denn, er landet nicht auf Asphalt, sondern wie ein Stuntman auf einem Stapel Kartons...“
    „Kartons sind zu laut. Die hätten Sie gehört!“ unterbrach Sherlock.
    „... oder Schaumgummi. Auf dem Dach eines Doppeldeckerbusses oder der Ladefläche eines LKWs hätte man dies schnell und unbemerkt hin und auch wieder weg transportieren können. Er musste nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort stehen. Und erstaunlicher Weise gibt es direkt neben der Stelle, an der Sie gestorben sind, Markierungen durch spezielle Pflastersteine, die man gut dafür hätte nutzen können.“
    „Sie mögen meinen Aufprall nicht gesehen haben. Aber es gab genügend Menschen, die sich zu dieser Zeit auf der Straße aufgehalten haben. Sie hätten es sicher bemerkt, wenn ich zuerst auf einem gepolsterten Lastwagen springen und mich dann daneben auf die Straße legen würde, meinen Sie nicht?“ Sherlock sah John neugierig an.
    „Es sei denn, dass es sich dabei um Freunde aus Ihrem Obdachlosennetzwerk handelte, die Sie vorher eingeweiht hatten.“ antwortete John sofort. „Sie hatten genug Zeit dazu, schließlich haben Sie dafür gesorgt, dass mich einer dieser Ihrer Freunde mit dem Fahrrad anfährt.“
    „So, hab ich das?“ Sherlock lächelte amüsiert.
    „Ja, das haben Sie!“ entgegnete John heftig. „Sie mussten mich – den Arzt – aus dem Weg schaffen.“
    „Warum sollte ich so etwas tun?“
    „Weil ich sonst festgestellt hätte, dass Sie noch leben.“
    „Als Sie kamen, hatte ich keinen Puls mehr!“
    „Ich stand unter Schock und hatte mir den Kopf heftig angeschlagen. Als ich Sie mit der Kopfwunde dort liegen sah...“ John atmete tief ein und aus. „Man hat mir nur ganz kurz die Gelegenheit gelassen, Ihren Puls zu messen – an Ihrem Arm. Und da habe ich nichts fühlen können. Doch das muss nicht unbedingt bedeuten, dass sie wirklich tot waren. Man kann den Blutfluss am Arm abdrücken indem man sich zum Beispiel etwas unter die Achselhöhle klemmt. Damit sorgt man dafür, dass man den Puls nicht mehr fühlen kann. Und ich bin überzeugt, dass Sie dies getan haben. Zum Beispiel mit dem kleinen Gummiball, mit dem Sie so ausgiebig im Labor gespielt haben.“
    „Ziemlich raffiniert!“ Sherlock grinste. „Aber spätestens bei der Obduktion wäre doch aufgefallen, dass ich noch atme und somit noch quicklebendig war.“
    „Ich konnte leider nicht bei der Obduktion dabei sein. Zuerst war ich wegen meinem Sturz im Krankenhaus – die Tests haben sich ewig hingezogen – und dann wollte Lestrade mich nicht rein lassen. Doch ich glaube nicht, dass Sie auch nur einen Augenblick auf dem Tisch gelegen haben. Irgend eine andere Leiche, die so ähnlich gebaut war wie Sie, hat dort Ihren Platz eingenommen. Und sie trug eine professionelle Maske mit Ihrem Gesicht – wie Moriarty, als er den armen Kindern vorgaukelte, Sie zu sein.“
    „Das wäre doch bei der Obduktion aufgefallen!“
    John sah Sherlock vielsagend an.
    „Ihre Theorie würde beinhalten, dass Molly ebenfalls von mir eingeweiht wurde!“ kombinierte Sherlock.
    „Das würde jedenfalls erklären, warum sie mir aus dem Weg gegangen ist und dann so plötzlich ein Jobangebot in den Staaten angenommen hat!“ begründete John leise.
    Hinter ihnen klapperte die Wohnungstür.
    "Wir sind alle nur Menschen - Maschinen stehen in der Küche!" (Danny Wilde)

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  14. #9
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    So, jetzt wird es aber allerhöchste Zeit...

    Zuerst aber vielen Dank an Zeson fürs Knöpfchen-drücken.


    Szene 8


    Harry ging an der Zimmertür vorbei und stellte den vollen Wäschekorb auf der Couch ab. Dann kam sie zurück und blickte ins Zimmer. „Hey, du bist wach! Hast du schon etwas gegessen?“
    „Nein, und ich bin erwachsen. Ich hole mir schon etwas, wenn ich Hunger habe!“ entgegnete John gereizt.
    „Ich werde dir einen Tee machen.“ Harry beachtete seine mürrische Stimmung nicht und verschwand Richtung Küchenzeile – ohne auch nur einen Blick auf Sherlock verschwendet zu haben.
    John hatte sich wieder dem Wandmosaik zugewandt. „Ich habe immer wieder über die Geschehnisse nachgedacht und komme immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Es gibt genug Möglichkeiten, dass Sie Ihren Selbstmord wirklich nur vorgetäuscht haben. Doch ein Problem bleibt!“ Seine Stimme war rau.
    „Und das wäre?“
    „Sie sind nicht mehr aufgetaucht. Monate sind vergangen, und Sie sind nicht zurück gekommen! Sie haben sich mir nicht gezeigt! Sie blieben einfach verschwunden!“
    „Vielleicht gab es dafür einen Grund?“
    John schnaubte. „Wir waren Freunde! Und Freunde tun sich so etwas nicht an. Er hätte eine Möglichkeit gefunden, mir zu zeigen, dass er noch lebt, wenn er wirklich noch leben würde, sich aber – aus welchem Grund auch immer – noch versteckt halten müsste. Die Zeit dazu hatte er! Ihm wäre bestimmt etwas eingefallen – so schlau wie er ist.“
    Sherlock schwieg. Er wusste, dass John Recht hatte. Er hatte sich lange Zeit eingeredet, dass es zu gefährlich war. Doch je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger fiel es ihm, über diesen so notwendigen Schritt nachzudenken, geschweige denn eine Entscheidung zu treffen.
    Aus dem Nebenraum hörte er den Wasserdampf pfeifend aus dem Teekessel entschwinden. Geschirr klapperte. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, bis Harry wieder ins Zimmer kam. Doch er wusste nicht, wie er John die Wahrheit vermitteln sollte. Also wandte er sich wieder der Wand zu.
    „Nach meinem Tod haben Sie sich an einige vom Obdachlosennetzwerk gewandt.“
    „Ich hatte gehofft, etwas über Ihren Verbleib zu erfahren. Aber Ihre Freunde waren nicht gerade gesprächig...“
    „Sie reden nicht gerne mit Fremden!“
    „Das habe ich bemerkt!“ Johns Blick verfinsterte sich.
    „Und dann haben Sie sich auf die Suche nach unseren Nachbarn, den Auftragskillern, gemacht.“ Endlich war Sherlock bei dem Thema angelangt, das ihn zu seinem Problem führte.
    „Das stimmt.“ John griff den Faden sofort auf. „Ich hatte gehofft, über die Auftragskiller an Moriarty heran zu kommen, der nach Ihrem Sprung plötzlich von der Bildfläche verschwunden war. - Eigentlich komisch. Ich hätte gedacht, dass er das öffentlich ausschlachten würde. Doch er ist seitdem völlig abgetaucht. - Nun ja, ich war mir jedenfalls sicher, dass ich bei meiner Suche nach Moriarty früher oder später über Sie stolpern müsste. Denn wenn Sie noch lebten, würden Sie ihn bis ans Ende der Welt jagen. Angefangen habe ich bei den beiden Auftragskillern, die bereits im Leichenschauhaus lagen. Ich habe Lestrade bekniet, mir Kopien ihrer Akten zu geben.“
    „Lestrade hat Ihnen geholfen?“ fragte Sherlock. Für ihn war Moriartys Verschwinden gar nicht so überraschend.
    „Auch wenn er versucht hat, Sie zu verhaften – Ihr Tod ist auch ihm nahe gegangen.“ John biss die Zähne aufeinander.
    „Und doch hat er meine Akte geschlossen und nicht versucht, mich zu rehabilitieren.“
    „Vermutlich, weil er nicht noch mehr Schlechtes über Sie erfahren wollte. Denn die Telefonverbindungen der Toten brachten nur eins heraus: Beide haben mit ihren Prepaid-Handys Ihre Nummer gewählt. Eine Verbindung zu Moriarty – Fehlanzeige!“
    „Ein weiterer interessanter Schachzug von Moriarty! Ich – der Schwindler – engagiere Auftragskiller und lasse sie von weiteren Auftragskillern töten, um mich in der Öffentlichkeit als Opfer darstellen zu können.“
    „Wenn Sie dies getan hätten, wären Sie wohl kaum so dumm gewesen, mit Ihrem eigenen Handy zu telefonieren.“
    „Vermutlich nicht!“ stimmte Sherlock zu. „Und was ist mit den anderen beiden freundlichen Gesellen?“
    Harry betrat das Zimmer mit einem Tablett in den Händen. Thermoskanne, ein Becher, in dem ein Löffel hin und her klapperte, eine Dose mit braunem Kandis und ein Teller mit Keksen standen darauf. Vorsichtig stellte sie es auf dem Bett ab.
    „Musst du nicht arbeiten?“ John betrachtete sie finster.
    Harry schüttelte den Kopf. „Doppelschichten Vorgestern und Gestern und dann ab Morgen wieder – aber heute habe ich frei!“
    „Ach wirklich?“
    Harry blickte ihn nachsichtig an. „Lass den Tee noch ein paar Minuten ziehen!“ Dann verschwand sie wieder im Nebenzimmer.
    Sherlock, der sich bei ihrem Eintreten auf eine gewaltige Standpauke eingestellt hatte, atmete fast unmerklich auf. Harry schien sich dazu entschlossen zu haben, ihn vorerst zu ignorieren. Dadurch gewann er noch etwas Zeit.
    „Die haben ihre Zelte direkt nach Ihrem Tod abgebrochen. Sie haben die Wohnungen leer geräumt, ihre Spuren verwischt und das Land verlassen.“ nahm John das Thema wieder auf. „Aber ich habe mir ihre Akten von Mycroft besorgt.“
    „Mycroft?“ Sherlock lehnte sich erstaunt nach vorne. „Mein Bruder hat Ihnen geholfen?“
    „Er hatte wohl ein schlechtes Gewissen, soviel von Ihnen ausgeplaudert zu haben.“ entgegnete John, war jedoch mit seinen Gedanken schon weiter. „Dieser Albaner ist von London aus nach Oslo geflogen. Er hatte dort wohl einen neuen Auftrag, der jedoch für ihn nicht so glücklich verlief. Jedenfalls landete er mit einer Kugel im Oberkörper im dortigen Leichenschauhaus.“
    „Berufsrisiko!“ meinte Sherlock lapidar. Er erinnerte sich genau an das Zusammentreffen mit dem Albaner, das nur einer von ihnen überleben sollte.
    „Mit der Russin hatte ich mehr Glück.“
    „Ludmila Dyachenko!“
    „Ja, genau. Sie ist nach ihrem Verschwinden aus London in Paris wieder aufgetaucht.“
    „Und das wussten sie von...“
    „Mycroft!“ vollendete John den Satz. „Allerdings war das sein letzter Gefallen! Er meinte, ich würde mich in etwas verrennen.“
    „Er wird ganz schön mit den Zähnen geknirscht haben, als er Ihnen diese Info gab!“ Sherlock lachte zufrieden auf.
    „Oh ja!“ Auch John musste grinsen. Er nahm den Teebeutel aus der Kanne und ließ ihn auf das Tablett fallen. Dann goss er sich den heißen Tee in den Becher und süßte ihn mit einigen Kandisstückchen. Im Raum verbreitete sich der Duft von Roibosch und Karamel.
    „Und was hat diese Ludmila so erzählt?“ erkundigte sich Sherlock.
    „Ehrlich gesagt nicht viel.“ antwortete John und schüttelte den Kopf. „Als ich sie soweit davon überzeugt hatte, mir zu sagen, was sie in London so getrieben hat...“
    „... hat sie sich elegant dem Verhör entzogen.“ unterbrach Sherlock.
    „Auf eine Zyankali-Kapsel zu beißen hat wohl nichts mit Eleganz zu tun!“ widersprach John.
    „Besser, als mit einer Kugel im Kopf zu enden!“ konterte Sherlock. Er erinnerte sich an den unversehrten leblosen Körper, den er in der Pathologie in einem Pariser Außenbezirk vorgefunden hatte. Und wie froh er gewesen war, dass es nicht John war.
    „Die Russin mag sich meinen Fragen entzogen haben. Aber ich habe in ihren Sachen ein Foto gefunden.“ John deutete auf ein Foto, dass einen kräftigen Mann mit Glatze zeigte. An beiden Armen trug er große, schwarze Tätowierungen.
    „Der Handwerker, der bei Mrs. Hudson gearbeitet hat.“ - 'Und der einzige von Moriarty angeheuerte Killer, der noch lebt' fügte Sherlock in Gedanken hinzu.
    „Dieser Handwerker war ebenfalls auf einmal verschwunden! Komischer Zufall, nicht wahr?“
    „Haben Sie ihn gefunden?“ erkundigte sich Sherlock.
    John schüttelte den Kopf. „Bisher verliefen alle Versuche im Nichts.“
    Schweigen senkte sich über den Raum. Sherlock wusste, wovon John sprach. Auch ihm war es nicht gelungen, diesen Mann zu fassen. Und von Tag zu Tag wurde die Spur kälter.
    John hatte sich aufs Bett gesetzt und nachdenklich in seinem Tee gerührt. Doch auf einmal sprang er auf. „Wo ist es?“
    „Wo ist was?“
    „Der Artikel! Ich hatte...“ Aufgeregt suchte John die aufgeschlagenen Zeitungen auf dem Boden ab. Doch das, was er suchte, war nicht dabei. Wütend fegte er die Zeitungen über den Boden. Dann ging er ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt stehen. „Was hast du getan, Harry?“
    Sherlock folgte ihm neugierig. Was war es, das John so aufregte?
    „Was ist los, John?“ Harry, die auf der Couch gelegen hatte, fuhr erschrocken hoch.
    „Wo hast du meine Zeitungen hin getan?“ John trat zu dem Küchentisch und wühlte in den ordentlich aufeinander gestapelten Zeitungsbergen. Achtlos warf er einige auf den Boden.
    „Bitte John, ich habe gerade erst aufgeräumt.“ Harry hatte sich aus ihrer Decke gewickelt und trat auf ihn zu.
    „Darum hatte ich dich nicht gebeten!“ fuhr John sie ärgerlich an. „Ich akzeptiere, wenn du dich an meinem Bier und Whisky bedienst. Aber lass gefälligst deine Finger von meinen Unterlagen!“
    Harry ließ hilflos ihre Schultern hängen. Wieder fingerte sie in der Hosentasche herum. „John, bitte...“
    „Soll ich dir was sagen?“ John drehte sich zu Harry um und funkelte sie wütend an. „Die ganzen vergangenen Tage habe ich gegrübelt, wie die Suche weiter gehen könnte. Ich steckte fest. Ich bin einfach nicht weiter gekommen. Bis gestern Abend. Ich weiß, dass ich etwas gefunden habe. Etwas wichtiges. Doch nun, wo ich es meiner Halluzination zeigen möchte, muss ich feststellen, dass du alles durcheinander gebracht hast! Und ich muss wieder von vorne anfangen. Währenddessen läuft uns die Zeit weg. Verdammt, du hast die Arbeit einer ganzen Woche zerstört!“
    „Halluzination?“ Harry sah ihn verwirrt an.
    „Das ist alles, was dich interessiert?“ John schnappte nach Luft. „Als Alkoholikerin müsstest du doch wissen, was eine Halluzination ist! Aber während dir nur weiße Mäuse erscheinen, besucht mich mein alter Freund Sherlock! Und er hört mir zu – im Gegensatz zu dir! Selbst wenn er nur meiner Einbildung entspringt, ist das mehr wert, als dein negatives Geplapper!“
    Harry schnappte nach Luft.
    „Ich weiß, er ist der Letzte, den du hier sehen wolltest. Das hast du mir oft genug zu verstehen gegeben.“ fuhr John sie an. „Aber keine Sorge, er ist nur ein Geist meines Unterbewusstseins. Du musst ihm ja nicht Aug in Aug gegenüber stehen!
    „Wie können Sie nur!“ Harry hatte endlich ihre Sprache wieder gefunden. Ihre Augen sprühten Funken, als sie sich an Sherlock wandte. „Ich habe Sie bis jetzt geduldet. Ich hatte die Hoffnung, Sie könnten meinen Bruder aus seiner Hölle holen. Doch statt dessen spielen Sie weiter ihr verdammtes Spiel! Doch das werde ich nicht zulassen. Verlassen Sie sofort meine Wohnung!“
    John blickte fassungslos von Einem zum Anderen. Sein Gesicht war bleich und seine Hand zitterte. „Harry, du siehst ihn? Du siehst Sherlock?“
    „Ja, das tue ich!“ antwortete sie. „Er ist kein Geist, John. Er ist real!“
    John schüttelte ungläubig den Kopf. Dann wandte er sich ab.
    „Es tut mir Leid, John!“ Sherlock trat auf seinen Freund zu. Nun würde sich zeigen, ob ihre Freundschaft die nächsten Augenblicke überleben würde.
    „Ach ja?“ John rang immer noch nach Fassung. Erst als Sherlock ihn fast erreicht hatte, drehte er sich zu ihm um.
    "Wir sind alle nur Menschen - Maschinen stehen in der Küche!" (Danny Wilde)

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  16. #10
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    So, nach einer wahrlich langen Sommerpause melde ich mich zurück und hoffe, dass ihr für die kommende dunkle Jahreszeit genügend Sonnenwärme getankt habt. Und natürlich hoffe ich, dass ihr wissen wollt, wie es mit Sherlock und John weiter geht...

    Hier also die Fortsetzung...

    Szene 9

    Die Faust traf Sherlock hart und völlig unvermittelt am linken Auge.
    „Mistkerl!“ Johns Blick war kalt und entschlossen. Seinem nächsten Schlag konnte er noch ausweichen. Doch als der darauf folgende ihn in die Seite traf und ihm fast den Atem nahm, wusste er, dass er sich verteidigen musste.
    Innerhalb weniger Sekunden lagen sie beide auf dem Boden und kämpften unerbittlich.
    Aus der Ferne hörte er Harrys verzweifelte Stimme. „Nun hört sofort auf!“
    Keiner von ihnen war dazu bereit. Mal hatte der eine die Oberhand, dann wieder der andere. Es war ein wildes Handgemenge, in dem keiner von ihnen klein beigeben wollte.
    Plötzlich bekam Sherlock einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Er schnappte nach Luft und verharrte einen Augenblick. Auch John ließ seine Faust sinken und wischte sich das Wasser aus seinem Gesicht.
    „Jetzt ist sofort Feierabend! Sind wir hier im Kindergarten? Oder seid ihr beide erwachsene Menschen?“ Harry, mit einem riesigen Topf bewaffnet, aus dem die letzten Tropfen Wasser rannen, funkelte beide wütend an.
    Sherlock und John erhoben sich keuchend, ließen sich jedoch keine Sekunde aus den Augen – immer bereit, einen weiteren Angriff abzuwehren.
    „Ihr Männer seid doch alle gleich!“ spie Harry bitter aus. „Sobald es Probleme gibt, werden die Fäuste ausgepackt.“
    Sherlock zog sein Hemd gerade. John wischte sich Blut von der aufgeplatzten Lippe und ballte die Fäuste. Jedem von ihnen war klar, dass es noch nicht vorbei war.
    Dabei wusste Sherlock genau, dass Harry recht hatte. Ihr Problem konnten sie nicht mit den Fäusten klären. Sie mussten reden. Doch wie sollte er anfangen, ohne einen erneuten Wutanfall zu provozieren?
    „Wieso?“ John blickte ihn starr an. „Wieso haben Sie so lange gewartet? Und wieso kommen Sie jetzt?“
    „John, ich kann verstehen...“
    „Nein! Lassen Sie es. Sie verstehen nichts! Wie konnten Sie mich nur so lange im dem Glauben lassen, dass Sie tot sind? Hat es Ihnen Spaß gemacht, zu sehen, wie ich langsam wahnsinnig werde?“ John fing an, aufgeregt auf und ab zu gehen. Dann blieb er direkt vor Sherlock stehen. „Kann es für so etwas auch nur einen Grund geben?“
    „John, ich hatte einen sehr triftigen Grund, mich so zu verhalten!“ antwortete Sherlock ruhig.
    „Ach ja. Und wie lautet er? Na los, spucken Sie es aus!“
    „Ich habe Sie damit geschützt!“
    „Ja klar doch!“ John lachte abfällig. „Man lässt einen Freund live bei dem eigenen vorgetäuschten Selbstmord zusehen und lässt ihn dann auch noch monatelang in dem Glauben, dass es wirklich passiert ist. - Nein, mir ist jetzt eins ganz klar: Sie haben mich benutzt. So, wie sie es immer tun. Sie benutzen Menschen, um Ihr Spiel zu spielen. Mich haben Sie dafür benutzt, Ihren Tod vorzutäuschen! Ich war einfach nur Ihr Alibi! - Sie Maschine mag das völlig kalt lassen. Aber mich lässt so etwas nicht kalt! Verdammt, wie können Sie nur so herzlos sein?“
    „John, glauben Sie wirklich, mir ist es leicht gefallen, meinen besten Freund zu zwingen, mir bei meinem Selbstmord zuzusehen? Und ihn dann in diesem Schockzustand zu lassen?“ Sherlock blinzelte. Doch er konnte es nicht verhindern, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Schnell wandte er sich ab und räusperte sich. „Aber mir blieb keine andere Wahl. Die hätten Sie getötet! Und... das hätte ich nicht ertragen.“
    „Sherlock, ich...“ Aus Johns Stimme war alle Wut verschwunden und als Sherlock sich wieder zu ihm umdrehte blickten sie sich schweigend an.
    Einige Sekunden vergingen. Dann räusperte sich John. „Ich werde mir mal das Blut abwaschen.“
    "Wir sind alle nur Menschen - Maschinen stehen in der Küche!" (Danny Wilde)

  17. #11
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    Szene 10

    Sherlock hatte sich nachdenklich auf der Couch niedergelassen. Über seinem linken Auge pochte es. Und auch sonst fühlte er sich nicht gerade ausgezeichnet. John hatte gut ausgeteilt, so dass er die nächsten Tage einige blaue Flecke mit sich herum tragen würde. Was ihm aber noch mehr Unbehagen verursachte war die Tatsache, dass er seine Emotionen soeben nicht mehr unter Kontrolle gehabt hatte. Er hatte sich von Johns Worten nicht nur reizen lassen. Nein! Sie hatten ihn verletzt! Und er hatte sich daraufhin genötigt gefühlt, sich zu verteidigen. Dieses komische Gefühl verwirrte ihn.
    „Hier, kühlen Sie damit Ihr Auge!“ Harry reichte ihm einen Eisbeutel.
    Mechanisch nahm er ihn entgegen und drückte ihn auf sein Auge. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie alles mit angehört haben musste.
    Schweigend verfolgte er, wie sie sich vor ihm auf den Couchtisch setzte und den erste Hilfe Koffer öffnete. Doch als ihre Hände sich in Richtung seiner Stirn bewegten, wehrte er unwirsch ab. „Lassen Sie das!“
    Harrys Hände verharrten kurz in der Luft. „Ich möchte mir nur Ihre Stirn anschauen. Sie haben dort eine blutende Wunde. Drücken Sie nur weiter den Eisbeutel auf Ihr Auge. Sonst können Sie morgen nichts damit sehen!“ Sie schob seine andere Hand zur Seite. Nachdem sie seine noch nassen Haare aus der Stirn gestrichen hatte, sah sie sich die Wunde an. „Sieht wohl schlimmer aus, als es ist.“ murmelte sie und tupfte sie sauber.
    „Sollten Sie sich nicht besser um Ihren Bruder kümmern?“
    Harry schmunzelte. „Er ist Arzt und im Badezimmer hängt ein Spiegel. Er wird schon zurecht kommen!“
    Sherlock musterte ihr Gesicht – so gut es mit dem einen ihm verbliebenen Auge ging. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit und vermied es, ihm direkt in die Augen zu sehen. Es war das erste mal, dass er sie seit seinen Eintreffen Stunden zuvor wirklich betrachtete. Und er musste feststellen, dass sie sich verändert hatte. Sie war nun frisch gewaschen und trug saubere Kleidung, auch wenn die weite Bluse, die sie trug, für sie unvorteilhaft war. Die Haare waren ordentlich zu einem Zopf geflochten und ihre Haut verströmte einen sanften Duft nach Vanille, der von dem Duft der frisch gewaschenen Wäsche beinahe übertüncht wurde. Bis auf die dunklen Augenringe und die etwas blasse Haut sah sie ganz passabel aus.
    Doch auch wenn sie ihr Aussehen verändert hatte und ihn nun verarztete, ihre ablehnende Haltung ihm gegenüber war noch deutlich zu spüren. Daher konnte er sich nicht verkneifen, sie zu fragen: „Und? Wollen Sie mir nichts sagen? Keine Vorwürfe? Keine abfälligen Bemerkungen, wie z. B. 'Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben!'?“
    „Sie wollen wissen, was ich denke?“
    „Nun, 'wissen' eigentlich nicht. Ich vermute nur, mir bleibt keine Möglichkeit, mich jetzt Ihrer Standpauke zu entziehen.“
    „Wie Sie wollen!“ Harry lächelte traurig. „Sie denken, Sie haben mit ihrem Verhalten Ihre Freunde geschützt! Doch dies ist kein Spiel – das hier ist das echte Leben. Das, was man tut, wie man sich verhält, hat Auswirkungen nicht nur auf einen selbst – sondern auch auf andere. Es berührt andere – vor allem die, denen man nahe steht. Es freut sie – oder es schmerzt sie! Wenn Sie also sagen, dass Sie John nur beschützen wollten, dann sind Sie nicht brillant – sondern dumm!“
    Sherlock zuckte zusammen. Das Desinfektionsspray, das Harry ihm soeben auf die Wunde tupfte, brannte erstaunlich stark. Nachdem sie ihm noch ein Pflaster aufgeklebt hatte, packte sie den erste Hilfe Koffer wieder zusammen. Dann stand sie auf und verstaute ihn im Sideboard.
    Sherlock lehnte sich zurück und betrachtete sie sinnend. Ihre Worte waren ruhig und überlegt gewesen. Wo war die aggressive Alkoholikerin geblieben?
    Während Harry den Wäschekorb, der neben der Couch gestanden hatte, ins Schlafzimmer trug und die frisch gewaschene und gebügelte Wäsche in den Schrank räumte, sah sich Sherlock in der Wohnung um.
    Auch hier war eine Veränderung eingetreten. Die leeren Bier- und Whiskyflaschen waren verschwunden, genauso die halbleeren Essensschachteln. Die Zeitungen, die wie wild im Zimmer verteilt gewesen waren, lagen nun ordentlich aufeinander gestapelt auf dem großen Esstisch – bis auf die, die John eben hinunter gefegt hatte. Auch das herumstehende Geschirr war gespült und in den Schränken verstaut worden.
    Harry kam zurück und legte die Decke, die zusammengeknüllt neben Sherlock auf der Couch lag, zusammen.
    In diesem Augenblick betrat auch John wieder das Zimmer. Er hatte sich gewaschen und rasiert und trug nun eine andere Hose und ein frisch gebügeltes Hemd.
    "Wir sind alle nur Menschen - Maschinen stehen in der Küche!" (Danny Wilde)

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  19. #12
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    Danke an die beiden Knöpfchendrücker Saffier und Tamara. Für euch und die anderen Leser hier nun der Abschluss meiner Geschichte.

    All den Glücklichen, die heute Abend BBC One empfangen können, wünsche ich spannende 90 Minuten...


    Szene 11

    Johns Gesicht war ernst, als er auf Sherlock zuging „Also, eins sollte klar sein: Wir müssen über das, was passiert ist, noch reden. Und das werden wir auch. Aber vorher möchte ich mit euch darauf anstoßen, dass mein bester Freund lebt.“ John sah sich kurz um, dann holte er aus dem Schlafzimmer die übrig gebliebene Flasche Whisky und fingerte drei Gläser aus dem Sideboard.
    „Für mich bitte nichts, John.“ sagte Harry. Sie legte die zusammengefaltete Decke auf die Couch und wollte gehen, doch John stellte sich ihr in den Weg. Er goss die Gläser mit Schwung voll und reichte Sherlock, der sich hinter Harry erhoben hatte, eins davon. Das andere hielt er Harry hin.
    „Ich hatte schon gesagt, für mich bitte nicht.“ wehrte Harry mit zittriger Stimme ab.
    John lächelte gutmütig. „Na komm schon Harry. Sei kein Spielverderber. Wann erlaube ich dir schon einmal, zu trinken? Also greif zu!“ Er hob das Glas etwas an, so dass Harry der Alkohol in die Nase stieg.
    „Nein! Bitte...“ Sie wich zurück, bis sie gegen Sherlock stieß. Derart eingekeilt zwischen den beiden Männern, der Couch und dem Tisch, steckte sie die Hände in die Hosentaschen und suchte nervös nach einem Ausweg.
    Nun wurde John ungehalten: „Warum zierst du dich so? Ich weiß doch, dass du heimlich trinkst. Also warum willst du nicht mit mir anstoßen?“
    Sherlock hatte Harry in den letzten Sekunden nicht aus den Augen gelassen. Ihre Weigerung hatte ihn zuerst spöttisch auflächeln lassen. Doch die Beharrlichkeit machte ihn mehr als stutzig. Und auf einmal begriff er.
    „Weißt du was, John? Ich glaube, ich kann einen doppelten vertragen!“ Er trank sein Glas in einem Zug aus und nahm dann Harrys Glas und stürzte den Whisky ebenfalls herunter. Dabei achtete er darauf, dass er sich so stellte, dass Harry an ihm vorbei kommen konnte. „Das tut gut!“
    Harry nutzte sofort die Gelegenheit und floh in die Küche. Dort klammerte sie sich mit einer Hand an die Arbeitsplatte, während die andere etwas fest mit der Faust umklammerte.
    John schüttelte missbilligend den Kopf: „Ich weiß nicht, was kindischer ist: Das Harry sich weigert, in Gesellschaft zu trinken, oder dass Sie direkt zwei Gläser auf Ex trinken. Ich hätte Ihnen auch nachschenken können!“ Er seufzte. „Ihr habt auf jeden Fall beide denn Sinn des Anstoßens nicht verstanden! Na dann – Prost!“ John setzte sein Glas an und trank.
    „John, Harry ist trocken!“ Sherlock betonte jedes einzelne Wort und blickte seinen Freund ernst an.
    John verschluckte sich. Hustend setzte er das Glas ab. „Wie bitte?“
    „Und das schon ein paar Monate! Es hätte mir eigentlich schon bei unserer ersten Begegnung auffallen müssen. Doch ich war mit meinen Gedanken so sehr wo anders, dass ich die Zeichen nicht gesehen habe – oder nicht sehen wollte.“ Sherlock blickte auf Harrys Rücken. „Und dafür entschuldige ich mich.“
    „Ist das wirklich wahr, Harry?“ John ging langsam auf Harry zu, die sich bei Sherlocks letzten Worten ruckartig umgedreht hatte. Ihr Blick, zuerst auf Sherlock gerichtet, wandte sich an John. Doch sie schwieg.
    „Natürlich ist das wahr.“ antwortete Sherlock an ihrer Stelle. „Die Zeichen dafür sind zu offensichtlich.“
    „Ach ja?“
    Sherlock kannte die Art, wie John das 'Ach ja' betonte. Diese Betonung wählte er, wenn er Sherlocks Erklärungen nicht hören wollte. Doch diesmal würde er nicht umhin kommen. Daher fuhr er mit Blick auf Harry fort: „Ich gebe zu, als ich in die Wohnung kam, sah alles so offensichtlich danach aus, dass sie immer noch – oder schon wieder – trinken würde. Doch schon an ihren Worten hätte ich bemerken müssen, dass dem nicht so ist. Sie hat weder abgewehrt oder geleugnet, dass sie eine Trinkerin ist. Keine Entschuldigungen oder Ausflüchte. Nichts. Aber sie hat Sie verteidigt – wie eine Löwin.“
    „Hat Sie dass?“ John blickte von Harry zu Sherlock und wieder zurück zu Harry. Die schwieg jedoch weiterhin und blickte auf den Boden.
    „Als ich kam, stank sie nach Alkohol. Doch es war keine Fahne. Und er kam ihr auch nicht aus den Hautporen. Der Alkoholdunst hing in ihrer Bluse. Und dann die leeren Flaschen in der Tüte auf der Arbeitsplatte. Sie war gerade dabei gewesen, die Reste aus den Flaschen in den Abfluss zu kippen. Dabei hat ihr Hemd eine ganze Reihe Spritzer abbekommen. Das war der Alkohol, den ich gerochen habe. Als ich sie traf, war sie völlig nüchtern. Müde gearbeitet – aber nüchtern. Und sie hat ihren freien Tag genutzt, um die Wohnung aufzuräumen. Um die Versuchung so schnell wie möglich aus ihrem Blickfeld zu verdammen. Für ein geregeltes Leben. Erst als sie damit fertig war, hat sie sich hingelegt und ausgeruht.
    „Harry, wie lange schon?“ Johns Stimme war belegt.
    Sherlock lachte kurz auf. „Das bringt mich zu dem eigentlichen Hinweis. Den Hinweis, den sie immer dann umklammerte, wenn es um ihre Trinkerei ging. Ich nehme mal an, dass es eine Münze ist. Von den Anonymen Alkoholikern. Nicht die Willkommens-Münze. Die bekommt jeder. Nein, es ist eine Münze mit einer persönlichen eingravierten Zahl. Die Erinnerung daran, wie viele Tage, Wochen oder Monate man bereits trocken ist. Ihr Halt in schweren Zeiten. Und wenn man bedenkt, dass sie Sie hier aufgenommen und trotz Ihres Alkoholkonsums nicht rausgeschmissen hat, denke ich, dass die eingravierte Zahl gar nicht mal so klein ist. Ich würde sagen, sie ist beim 12-Schritte Programm schon bei Schritt 9 angelangt: 'Wir machen es bei den Menschen, denen wir Schaden zugefügt haben, wieder gut!'“
    Harry atmete hörbar aus. „So groß, wie Sie vielleicht denken, ist sie nicht.“
    „Dann stimmt es also?“ John stand direkt vor Harry und blickte sie vorsichtig an.
    Harry zog eine Grimasse. „Hat sich dein Freund Sherlock schon einmal geirrt?“
    „Gelegentlich!“ murmelte John. Er blickte seine Schwester traurig an. „Ich habe mich wie ein Mistkerl verhalten!“
    Harry lächelte. „Ja stimmt, du warst ein Mistkerl – ein paar Wochen lang. Ich dagegen habe mich so jahrelang verhalten. Unser Punktekonto ist daher noch lange nicht ausgeglichen!“
    „Dann verzeihst du mir?“
    „Willst du darauf wirklich eine Antwort?“
    Erleichtert umarmte John seine Schwester. „Ich bin stolz auf dich! Und es tut mir Leid, dass ich es nicht bemerkt habe.“
    „Du warst mit anderen Dingen beschäftigt.“ antwortete Harry. „Und das verstehe ich!“
    „Jetzt, wo die Familienzusammenführung geglückt ist, stellt sich nur noch die Frage, warum Harry trotz Ihres rücksichtslosen Verhaltens nicht rückfällig geworden ist.“ mischte sich Sherlock wieder ein.
    „Sehr freundlich von Ihnen, Sherlock.“ John sah ihn unwillig an. „Ich habe es kapiert, dass ich in den letzten Wochen nicht gerade hilfreich gewesen bin.“
    „Es geht jetzt nicht um Ihr Verhalten, John.“ winkte Sherlock ab. „Wochenlang Alkohol im Haus zu haben – und dann trotzdem trocken zu bleiben. Es muss einen wirklich triftigen Grund dafür geben. Einen Auslöser. Ein besonderes Ereignis, das einen zu so einer Kraftanstrengung treibt. Ein einschneidendes Erlebnis. Oh!“ Er musterte Harry, die sich unter seinem Blick merklich wand. „Nadelstiche – doch keinerlei Anzeichen für den Konsum harter Drogen. Also mehrere aufeinander folgende Arztbesuche. Erbrechen, Augenringe, Blässe, ein viel zu weites Hemd. Die wievielte Woche ist es?“
    „Sherlock!“ John sah ihn entsetzt an.
    „Die dreiundzwanzigste.“ antwortete Harry leise. Sie blickte John an und lächelte.
    „Nein.“ John schüttelte ungläubig den Kopf. „Du bist Schwanger? Aber von wem?“
    „Eine gute Frage.“ hob Sherlock an. „Es gibt kein Bild von ihm. Und da sie es vorgezogen hat, mit Ihnen zusammen zu wohnen und nicht mit dem Vater ihres Kindes, vermute ich mal, dass es nicht dazu gereicht hat, zusammen zu ziehen. Vielleicht eine flüchtige Bekanntschaft? Oder jemand aus dem Zirkel der Anonymen Alkoholiker? Ein Leidensgenosse? Ein...“
    „Mr. Holmes! Lassen Sie es gut sein! Ich werde weder Ihnen noch John sagen, wer der Vater ist. Und ich warne Sie. Versuchen Sie es nicht, mich durch Spekulationen oder das Aufzählen aller nur erdenklichen Möglichkeiten, die Ihnen einfallen, aus der Reserve zu locken. Das werden Sie nicht schaffen.“ Harry sah ihn ernst an und schob das Kinn vor.
    Sherlock schmunzelte über diese familientypische Mimik.
    „Wenn er dich hat sitzen lassen, solltest du es mir sagen!“ drängte John mit ernster Stimme.
    „Warum?“ Harry sah ihn begütigend an. „Damit du ihm Vorhaltungen machen kannst? John, meine Schwangerschaft ist das Beste, was mir passieren konnte. Der kleine Wurm ist ein Geschenk, das ich hüten und pflegen werde. Ich fange jetzt ein neues Leben an.“
    „OK!“ John konnte es immer noch nicht fassen. „Und mit dem Kleinen ist alles in Ordnung? Was wird es eigentlich?“
    Harry lächelte. „Ich werde mich überraschen lassen. Und keine Sorge, Onkel Doctor. Es ist alles ok!“
    „Bis auf die Schwangerschaftsdiabetis der werdenden Mutter.“ klärte Sherlock auf.
    „Nein! Warum verschweigst du mir so etwas?“ John sah seine Schwester tadelnd an.
    „Du weißt genauso gut wie ich, dass, solange ich auf meine Ernährung achte und genügend Ruhe finde, nichts passieren kann.“ beruhigte Harry und sah Sherlock warnend an. „Mr. Holmes, haben Sie nicht einen Fall zu lösen?“
    „Die Nachtschichten solltest du baldmöglichst einstellen. Und du solltest auf jeden Fall umziehen. Hier kannst du nicht wohnen bleiben!“ überlegte John.
    „John, ich bin erwachsen! Ich werde mir beizeiten etwas passendes suchen.“
    „Die nächsten Monate werden wie im Flug vergehen.“ widersprach John. „Vielleicht kann Mrs. Hudson dir in der ersten Zeit helfen?“
    „Mr. Holmes wird sich bedanken, wenn er nachts von Kindergeschrei geweckt wird.“ wehrte Harry ab. „Und bitte mich jetzt bitte nicht, die noch leerstehende Wohnung dieser Russin zu nehmen, wie hieß sie doch gleich? Ludmila?“
    John nickte. „Ich habe verstanden. Ich werde versuchen, mich nicht allzu sehr einzumischen.“
    „Dafür wäre ich dir dankbar!“ meinte Harry trocken. „Vielleicht lenkt dich der nächste Fall, den Mr. Holmes hoffentlich bald annehmen wird, etwas ab.“
    „Ja genau! Das hatte ich ja fast vergessen!“ John trat an Harry vorbei und blickte seufzend auf die Zeitschriftenstapel. „Irgendwo hier drin liegt unser nächstes Puzzleteil. Es ging um die Eröffnung – nein den Bau eines neuen Einkaufszentrums in Croydon. Der Artikel ist uninteressant, aber das Bild...“ Er wühlte aufgeregt durch die Zeitschriften.
    Harry sah ihm ratlos zu. Dann begann sie mit die Zeitschriften zu durchstöbern. „Tut mir Leid. Mir war wirklich nichts aufgefallen...“
    Sherlock war im Schlafzimmer verschwunden. Nun kam er mit seinem Mantel zurück. Als er sein Smartphone herausgezogen hatte, warf er den Mantel achtlos auf die Couch und trat näher. „Croyden sagten Sie?“ Eifrig tippte er auf dem Touchscreen herum. Vielleicht konnte er den Artikel online finden.
    „Ist es dass? 'Hier entsteht in Kürze das modernste Einkaufszentrum jenseits der Themse?' - Oh mein Gott!“ Harry sah John fassungslos an.


    Szene 12

    „Das ist er!“ John riss ihr die Zeitschrift aus der Hand und hielt sie triumphierend hoch. Dann reichte er sie an Sherlock weiter, der nur ein Blick auf das Bild werfen musste. Der Fotograph hatte die Häuserzeile aufgenommen, die für das Einkaufszentrum weichen würde. Eine ganze Anzahl Fußgänger war ebenfalls zu sehen – darunter der letzte verbliebene Auftragskiller. Deutlich waren die Tätowierungen auf den Oberarmen zu erkennen. „Er ist hier in London – und hat wahrscheinlich keine Ahnung, auf so einem Foto zu sein!“ Sherlock blickte John zufrieden grinsend an. „Wir müssen wissen, wann das Foto entstanden ist. Wenn wir Glück haben, können wir ihn auf den Überwachungskameras verfolgen. Ja – wir haben eine Spur!“ Freudig hob er die geballten Fäuste in die Höhe und drehte sich um seine eigene Achse. Endlich konnte es weiter gehen.
    „Ich hol meine Jacke.“ John verschwand im Schlafzimmer.
    Sherlock blickte zu Harry, die neben ihm die heruntergefallenen Zeitschriften aufhob und wieder zu ordentlichen Stapeln aufschichtete. „Sie wussten es!“
    „Wie bitte?“ Sie verharrte in ihren Bewegungen und blickte ihn von der Seite an.
    „Sie waren nicht erstaunt, als ich heute an Ihrer Tür klingelte! Sie wussten, dass ich Lebe!“
    Harry lächelte. „Ich habe John immer geglaubt!“
    Sherlock nickte und tippte kurz etwas auf seinem Smartphone. Dann ging er zur Couch und zog sich lächelnd Mantel und Schal an.
    „Mr. Holmes. Bitte passen Sie auf meinen Bruder auf.“
    Sherlock drehte sich zu ihr um und zwinkerte ihr mit seinem gesunden Auge zu. „Passen Sie auch auf sich auf, Mrs. Watson!“ Mit langen Schritten verließ er die Wohnung. Hinter sich konnte er Harrys drängende Stimme hören: „Nun geh schon, John. Ich bin froh, wenn ich nach all der Aufregung etwas Ruhe bekomme!“ Gleichzeitig hörte er ein Handy kurz klingeln – jemand hatte eine SMS erhalten.
    „Vor welchem Grab habe ich eigentlich gestanden, wenn nicht Sie in dem Sarg lagen, der dort begraben wurde?“ erkundigte sich John, als er Sherlock auf der Treppe eingeholt hatte.
    Sherlock drehte sich breit grinsend zu ihm um: „Das wird Ihnen gefallen!“
    „Ich fürchte, das wird es nicht!“
    „Moriarty!“ Sherlock lachte laut, als er Johns Gesicht sah.


    Epilog

    Harry war ins Treppenhaus getreten und hatte den beiden hinterher gesehen, wie sie die Stufen hinunter liefen. Natürlich hatte sie nicht viel mehr gesehen als ihre Hände auf dem Geländer und ein Stück vom Arm. Doch das genügte ihr. Als die Haustür unten zufiel, lächelte sie. John hatte Recht behalten. Sherlock lebte. Johns dunkle Zeit war vorbei. Und da er wieder glücklich mit seinem Freund vereint war, konnte sie sich nun auch auf ihr Glück konzentrieren.
    Die Wohnungstür ihr gegenüber öffnete sich knarrend. Harry trat von der Brüstung weg und ging zurück in ihre Wohnung. Die Tür ließ sie offen. Er würde eh einen Weg finden, herein zu kommen. Sie hörte seine Schritte, drehte sich jedoch nicht zu ihm um.
    „Sie haben nicht angerufen!“ Jedes einzelne Wort klang 'very' britisch. Und der Vorwurf, der in diesen wenigen Worten lag, war deutlich herauszuhören.
    „Stimmt, das habe ich nicht!“ antwortete Harry. „Wenn Sie von ihm etwas wollen, dann gehen Sie ihn besuchen. Sie wissen, wo er wohnt!“
    „Diese Ablehnung mir gegenüber scheint in der Familie zu liegen.“ antwortete die Stimme spöttisch. „In Ihrem Zustand hätten Sie das Geld so gut gebrauchen können.“
    Harry drehte sich. „Ich denke nicht, dass Sie mein Zustand etwas angeht, Mr. Holmes. Es sei denn, meine Schwangerschaft hat auf einmal mit der nationalen Sicherheit zu tun.“
    Mycroft Holmes lächelte: „Sie und ihr Bruder sind sich sehr ähnlich, wissen Sie das?“
    „Das sollten Sie ihm besser nicht sagen!“ murmelte Harry.
    „Sherlock und ich hingegen sind wie Feuer und Wasser.“
    „Ja, bis auf ihre grauen Augen und die schlechten Manieren haben sie wirklich nicht viel gemeinsam.“ meinte Harry bissig. „Gibt es sonst noch etwas? In meinem Zustand sollte ich zumindest ein paar Stunden Ruhe haben.“
    „Ich bitte um Entschuldigung. Natürlich möchte ich Sie nicht weiter aufhalten.“ Mycroft deutete eine Verbeugung an. Dann holte er eine Visitenkarte aus seiner Jackeninnentasche und notierte etwas darauf. „Hier, bitte sehr!“
    „Was ist das?“ erkundigte sich Harry abweisend, ohne ihm den Zettel aus der Hand zu nehmen.
    „Das ist die Telefonnummer einer alten Bekannten, die etwas außerhalb Londons wohnt. Sie hat Kinder sehr gern – sogar solch nervige wie Sherlock und mich. Und sie würde sich bestimmt über eine Gesprächspartnerin freuen, die sich auch etwas um das große Haus und den Garten kümmert.“ Mit einem vielsagenden Blick legte er die Visitenkarte auf den Couchtisch. „Ich empfehle mich!“
    Harry blickte Mycroft nach, bis dieser die Wohnungstür leise hinter sich geschlossen hatte. Dann holte sie sich ein Glas Milch und griff nach ihrem Handy, dass auf der Fensterbank in der Küche gelegen hatte.
    Während sie sich auf der Couch nieder ließ, rief sie die SMS auf, die sie bekommen hatte, als sie sich gerade von John verabschiedete. Lächelnd stellte sie ihr Milchglas auf den Tisch und strich sich über ihren Bauch. Dann griff sie zu der Visitenkarte und drehte sie zwischen ihren Fingern.
    „Ich habe mich getäuscht, Mr. Mycroft Holmes. Sie und Ihr Bruder Sherlock haben doch mehr gemeinsam, als Sie denken.“
    Sie legte Handy und Visitenkarte auf den Tisch und kuschelte sich in die Decke.


    Auf dem Tisch leuchtete das Display noch ein paar Sekunden auf. Unter einer Telefonnummer stand: Eine gute Freundin der Familie Holmes. Liebt Kindergeschrei und hat auch noch ein Zimmer frei. SH
    "Wir sind alle nur Menschen - Maschinen stehen in der Küche!" (Danny Wilde)

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  21. #13
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