Titel: Die Mutprobe
Autor: Chayiana
Serie: Grimm
Genre: gen, friendship
Charakter(e)/Pairing(s) Nick Burkhardt, Monroe, Jimmy Spencer (OC), Sergeant Wu
Rating/Warnings: PG
Staffel/Spoiler: spielt direkt nach 1x06 „The Three Bad Wolves“
Anmerkung des Autors: Vielen lieben Dank an meine Betaleserin Sinaida!
Ich kenne nur die US-Fassung und benutze daher auch die Wesennamen des Originals – nur für den Fall, dass sich jemand wundert.
Kurzinhalt: Eigentlich wollte Nick nur nach Hause, aber plötzlich befindet er sich in einer äußerst misslichen Lage, der er ohne Hilfe nicht entrinnen kann.
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Mit schmerzverzerrtem Gesicht umfasste Nick mit der linken Hand sein rechtes Fußgelenk und tastete es vorsichtig ab. Er lag auf dem Rücken und allein die Anstrengung, seinen Fuß überhaupt in eine greifbare Position zu bringen, hatte ihm den Schweiß auf die Stirn und Tränen in die Augen getrieben. Er konnte zwar nicht mit Gewissheit sagen, dass sein Knöchel nur böse gestaucht war, aber für den Moment sah es glücklicherweise ganz danach aus. Worüber er allerdings keinerlei Zweifel hatte, war seine ausgerenkte Schulter. Er biss die Zähne zusammen, als sein rechter Arm unbeabsichtigt in eine seiner Bewegungen involviert wurde.
„Verdammt!“, fluchte er und sah sich zum ersten Mal, seitdem es passiert war, eingehender um.
Er lag am Grund einer etwa fünf Meter tiefen Erdspalte. Die ihm gegenüber liegende Seite der Vertiefung war nur wenige Meter entfernt, aber nach beiden Seiten hin setzte sie sich auf eine unbestimmte Länge fort. Über ihm hatte der urwüchsige Teil des Washington Parks ganze Arbeit beim Verstecken dieser natürlichen Falle geleistet. Es war also nicht weiter verwunderlich, wie Nick in diese prekäre Lage geraten war. Vor allem nicht, wenn man bedachte, dass er sich mitten in einer wilden Verfolgungsjagd befunden und Nebensächlichkeiten wie überwachsene Erdspalten keine wie auch immer geartete Priorität gehabt hatten. Ein Fehler, wie sich im Nachhinein leicht feststellen ließ.
Vorsichtig lehnte Nick seinen Kopf gegen die Wand aus Erde, Wurzeln und wahrscheinlich jeder Menge Kriechzeug in seinem Rücken und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Über vergangene Fehltritte nachzudenken, war in seiner momentanen Situation wenig sinnvoll. Er musste einen Weg aus diesem Loch finden. Nick sah nach oben.
„Okay, der Weg ist klar. Frage ist nur, wer trägt mich da rauf?“, murmelte er voller Selbstironie. Ihm war bewusst, dass er keine Chance hatte, sich selbst zu befreien. Er brauchte Hilfe. Und dringend. Seine Schulter musste bald behandelt werden, wenn er keine bleibenden Schäden riskieren wollte. Außerdem hätte er in diesem Augenblick alles für ein paar Schmerztabletten und ein kühles Bier gegeben. Wenn er nur sein Handy noch hätte. Natürlich könnte er es mit Rufen probieren, aber mal abgesehen von der Schmach, dass er, ein heldenmütiger Detective der Portland-Polizei, aus einem Erdloch um Hilfe rief, wer war zu dieser Uhrzeit noch im unerschlossenen Teil des Washington Parks unterwegs, um seinen Hilferuf auch zu hören?
„Mister? Mister, geht es Ihnen gut?“
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„Hey, Juliette.“ Nick wechselte das Handy von der linken in seine rechte Hand, als sich seine Freundin am anderen Ende meldete. „Ich wollte nur fragen, ob wir noch irgendwas fürs Abendessen brauchen?“ Insgeheim hoffte er, dass seine Frage keine zu extravaganten Wünsche nach sich ziehen würde, das „Super“ in der Aufschrift „Bernie’s Supermarket“ über seinem Kopf schien arg übertrieben angesichts des kleinen, etwas heruntergekommenen Gemischtwarenladens einen Block von Monroes Haus entfernt.
Nach der Geschichte mit dem Bauerschwein und Monroes Ex Angelina hatte Nick sich vergewissert, dass der Blutbad in Ordnung war. Immerhin hatte ihr letztes Abenteuer mit der Wesenwelt einem Bekannten von Monroe das Leben gekostet. Doch sein Wesenfreund hatte ihm versichert, dass er durchaus in der Lage wäre einzuschlafen, ohne dass Nick ihm die Hand hielt. Seine Worte.
„Milch und ein paar Tomaten. Danke, Nick. Wann kommst du nach Hause?“
„Ich bin praktisch schon auf dem Weg.“ Er drückte den Knopf zum Auflegen, nachdem er Juliettes Antwort „Dann bis gleich.“ vernommen hatte, und steckte das Handy zurück in seine Jackentasche.
Bevor er den Laden betrat, ließ der Polizist in Nick den Blick über die nähere Umgebung schweifen. Dabei erregte eine kleine Gruppe Heranwachsender seine Aufmerksamkeit. Ein vielleicht elf- oder zwölfjähriger Junge wurde von drei älteren Teenagern umringt, die ihm gerade laut lachend auf die Schulter klopften. Nick konnte zwar das Gesicht des Jungen nicht sehen, aber seine angespannte Körperhaltung zeigte, dass ihm trotz all der Jovialität nicht ganz wohl in seiner Haut war. Das schien auch sein etwa sechzehnjähriger Gegenüber zu bemerken und begann leise, aber eindringlich auf den Jungen einzureden, während sich seine beiden Kumpane die Zeit damit vertrieben, abwechselnd mit einem Basketball zu dribbeln.
Für einen Moment meldete sich Nicks Instinkt, dass hier irgendetwas faul war, doch die Situation wirkte objektiv betrachtet schwerlich mysteriös oder gar bedrohlich. Und das sogar noch weniger, als der ältere Teenager nun dem jüngeren eine Hand auf die Schulter legte und ihn aufmunternd angrinste. Mit einem leichten Kopfschütteln wandte Nick den Blick ab und betrat den Laden.
Eine kleine Glocke über der Eingangstür verkündete seine Ankunft. Ein untersetzter Mann mit Halbglatze und einem eindrucksvollen Schnurrbart, der hinter dem Verkaufstresen etwas in ein Buch schrieb, blickte von seiner Arbeit auf und grüßte Nick mit einem freundlichen Lächeln. Der Grimm erwiderte den Gruß und sah sich dann nach dem Kühlregal um. Die Milch war schnell gefunden, doch bei der Auswahl der Tomaten ließ er sich etwas mehr Zeit. Er wusste, dass Juliette in dieser Beziehung sehr wählerisch war.
Plötzlich spürte Nick etwas an seiner Jacke entlangstreichen. Unauffällig blickte er an sich herunter und sah, wie eine Kinderhand in seiner rechten Jackentasche verschwand – dorthin, wo er sein Handy verstaut hatte. Blitzschnell ergriff er das Handgelenk des Diebes, der einen überraschten Schreckenslaut von sich gab, aber das gerade erbeutete Handy dabei nicht losließ. Für eine Sekunde blickte Nick in das Gesicht des Jungen, den er auf der Straße vor dem Markt gesehen hatte, bevor es sich zu verwandeln begann. Es dauerte nur eine weitere Sekunde, bis ihn die furchtsam geweiteten Augen einer … Maus anblinzelten. Von der Situation selbst ein wenig überrumpelt, brachte Nick nur „Du bist ein …“ heraus, musste sich aber unterbrechen, da er nicht wusste, wie diese Sorte Wesen bezeichnet wurde.
Sein Zögern wurde ihm zum Verhängnis. Der kleine Mäuserich nutzte die Gelegenheit, um ihm seine scharfen Vorderzähne in die Hand zu schlagen und zu flüchten, nachdem Nick ihn mit einem Schmerzensschrei losgelassen hatte.
Unterdrückt fluchend setzte er dem Wesen nach, Milch und Tomaten vergessen.
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Nick sah erneut nach oben und konnte für einen Moment ein unsicher dreinblickendes Mausgesicht zwischen dem Gestrüpp, das über den Rand der Erdspalte wucherte, ausmachen. Dann war es wieder verschwunden.
Richtig. Er war noch hier. Der Grund, warum Nick sich überhaupt in dieser Lage befand.
„Mister?“
„Ja!“, erwiderte Nick lauter, als unbedingt notwendig gewesen wäre. „Und nein, mir geht es nicht gut … dank dir! Und nun wirf mir schon mein Handy runter. Aber vorsichtig!“
„Das … das kann ich nicht“, entgegnete die Stimme des Jungen über ihm zitternd.
„Warum nicht?“
„Ich habe es nicht mehr. Die anderen haben es … ich …“
„Du meinst die drei Jungen, die bei dir waren … vor dem Laden?“, hakte Nick unwirsch nach.
„Ja, ich habe es ihnen noch zugeworfen, bevor … bevor … hören Sie, Mister, es tut mir leid. Ehrlich. Bitte tun Sie mir nichts!“
Von oben erklang ein leises Schniefen und Nicks aufschäumende Wut verebbte ebenso schnell. „Warum … und vor allem wie sollte ich dir was tun?“, fragte er überrascht.
„Sie sind der Grimm“, antwortete der Junge schlicht. Offenbar schien das Erklärung genug.
„Oh ja, und sieh einer an, wie weit mich das gebracht hat“, sagte Nick leise und versuchte dabei, sich in eine Position zu bringen, die ihm einen Blick auf seinen Gesprächspartner ermöglichte. Unglücklicherweise belastete er bei dieser Aktion seinen rechten Arm. Ein stechender Schmerz raste durch seine Schulter und breitete sich von dort in seinem gesamten Körper aus. Gequält stöhnte Nick auf. Schwindel und Übelkeit überkamen ihn wie eine Flutwelle. ‚Jesus Christ, wie erniedrigend soll diese Situation denn noch werden?’, dachte er verdrießlich. Zum Glück ließ die Übelkeit nach, sobald der Schmerz in seiner Schulter etwas abebbte.
„Mister! Mister! Bitte antworten Sie doch!“
Erst jetzt realisierte Nick, dass der Junge ihn schon eine ganze Zeit lang gerufen haben musste. Er klang regelrecht panisch.
„Schon gut“, antwortete Nick keuchend. Er hatte während seiner kleinen Eskapade unbewusst die Luft angehalten. Luft, die ihm jetzt eindeutig fehlte. „Ich … ich bin noch da.“
„Sie haben mir einen Schrecken eingejagt“, sagte der Junge nach einer längeren Pause.
„Sorry“, entgegnete Nick und meinte es auch so. „Wie ist dein Name?“
„Jimmy. Jimmy Spencer.“
„Okay, Jimmy, du kannst mich Nick nennen.“ Er zögerte für einen Moment, bevor er weitersprach. „Hör zu, du musst Hilfe holen. Ich komme hier alleine nicht raus. Ruf die Polizei, das sind meine …“
„Nein! Nein, keine Polizei … ich … die sperren mich ein, weil ich Ihnen das Handy geklaut habe. Ich … ich will nicht ins Gefängnis!“ Seine Stimme klang hektisch, verängstigt, und Nick befürchtete fast, dass Jimmy doch wieder die Flucht ergreifen würde.
„Okay, okay, keine Polizei“, beschwichtigte er den Jungen und begann fieberhaft über eine andere Lösung nachzudenken. Er könnte Jimmy bitten, zumindest einen Krankenwagen zu rufen, aber letzten Endes würde das ebenfalls die Polizei mit einbeziehen, wenn klar wurde, wer gerettet werden sollte. Er konnte nicht riskieren, dass der Junge türmte. Jimmy musste sie – wer auch immer ihm zu Hilfe kommen würde – zu ihm führen. Aber wer konnte ihm helfen?
Schon in der nächsten Sekunde musste Nick sich beherrschen, um sich nicht mit der flachen Hand vor den Kopf zu schlagen. Natürlich …
„Jimmy, könntest du dann bitte einen Freund von mir herbringen? Er wohnt nicht weit von hier … 418 Ravensview Drive.“ Zur Sicherheit schob er noch ein zweites „Bitte!“ hinterher und verrenkte sich beinahe den Hals, um die Reaktion des Jungen zu sehen.
Jimmy runzelte die behaarte Stirn. Dass er in dieser ganzen Zeit noch immer nicht in seine Menschengestalt zurückgewogt war, zeigte deutlich den Druck, unter dem er stand. Plötzlich weiteten sich seine Augen und er sog erschrocken die Luft ein.
„Aber … aber da wohnt der Blutbad! Ich kann da nicht hin. Er wird mich fressen!“
Innerlich seufzte Nick ergeben auf. Monroe musste dringend etwas für seinen Ruf tun. Pilates im stillen Kämmerlein half nicht gegen die Vorurteile der zum Teil sehr abergläubischen Wesengesellschaft.
„Nein, er wird dich ganz sicher nicht fressen. Es sei denn natürlich, er findet heraus, dass du mir hättest helfen können, es aber wegen irgendwelchen hanebüchenen Ammenmärchen nicht getan hast.“ Den letzten Satz hatte Nick scherzhaft gemeint, aber als er den schockierten Gesichtsausdruck des Jungen bemerkte, ruderte er umgehend zurück. „Vergiss, was ich gesagt habe, Jimmy. Der Blutbad ist mein Freund. Er wird dir nichts tun. Genauso wenig wie ich. Verstanden?“
„Sie … der Grimm ist mit einem Blutbad befreundet?“ Ungläubig starrte Jimmy auf ihn herab.
„Yep. Schockierend, oder?“ – ‚Himmel, Burkhardt, lass die blöden Witze!’ – Hör zu, Jimmy, ich bitte dich, geh zu ihm und lass ihn helfen. Ich verspreche dir, sobald du ihn hergeführt hast, kannst du nach Hause gehen und du wirst niemals wieder etwas von mir hören – keine Anzeige, keine Konsequenzen wegen des Handys, okay?“ Nick legte all seine Überzeugungskraft in diese Aussage.
Endlose Sekunden lang herrschte Schweigen, nur das abendliche Zirpen der Grillen durchbrach die Stille. Und gerade, als Nick glaubte, dass der junge Mäuserich sich aus dem Staub gemacht hatte, hörte er ein entschlossenes „Okay!“ und dann eilige Schritte, die sich von ihm entfernten. Er lehnte den Kopf gegen die Wand aus Erde und versuchte, sich zu entspannen. Nun hieß es warten und hoffen, dass er sich nicht in dem Jungen getäuscht hatte.
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Nick schreckte hoch, als er plötzlich Stimmen hörte. Er musste tatsächlich eingeschlafen sein, denn es schien nur wenige Augenblicke her gewesen zu sein, dass Jimmy gegangen war. Doch nun war es dunkel geworden. Schwach konnte Nick den Mond durch die Baumwipfel ausmachen, aber das Licht reichte nicht aus, um sein unfreiwilliges Gefängnis zu erhellen.
„Oh, du kannst mir ruhig glauben, Jimmy, ich war in meiner Familie immer der Kleinste, vor allem meine Cousins haben mich gerne aufgezogen.“
Nick erkannte die Stimme seines Freundes Monroe und gleich darauf sah er das Licht einer Taschenlampe, das die Bäume über ihm anleuchtete.
„Und die diversen Schauergeschichten über die Grimms haben es nicht gerade besser gemacht. Aber nun schau, was aus mir geworden ist …“ Und obwohl er noch niemanden sehen konnte, hatte Nick das Bild, wie Monroe vor Jimmy posierte direkt vor Augen. „Groß, stark und ich habe einen Grimm gezähmt.“
„Monroe!“, intervenierte Nick entrüstet, während das helle Lachen eines Kindes zum ihm hinunterschallte.
„Oh, hi, Nick. Wo steckst du?“, rief der Blutbad.
„Dein gezähmter Grimm liegt ein paar Meter unter dir in einer Erdspalte mit einer ausgerenkten Schulter und einem verstauchten Fuß.“ Nick wusste nicht, ob er sauer sein oder lachen sollte. Die Situation war einfach absurd. „Wenn du also die Güte hättest …?“
„Hey, Kumpel, sorry … du weißt, wie ich das meine. Ich meine, das weißt du doch, oder? Denn wenn du nicht weißt, wie ich das meine, müssten wir beide uns mal zusammensetzen und ein, zwei Dinge über …“
„Monroe …“, unterbrach er den Redeschwall seines Freundes.
„Ja, Nick?“
Nick rollte die Augen gen Himmel. „Hast du rein zufällig ein Seil dabei?“
„Oh, ja, natürlich, das Seil! Keine Sorge, wir haben dich da in Nullkommanix raus.“
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Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Monroe und Jimmy ihn mit vereinten Kräften über den Rand des kleinen Abgrundes gezogen hatten. Mit einem erleichterten Seufzer rollte Nick sich vorsichtig auf den Rücken und schloss für einen Moment die Augen.
„Mann, Nick, du siehst gar nicht gut aus.“
„Danke, Monroe“, erwiderte Nick ironisch und öffnete seine Augen wieder, um zu seinen beiden Rettern aufzuschauen. „Wie ich sehe, scheint ihr euch gut zu verstehen.“
„Oh ja, auch wenn der Anfang etwas holprig war. Unser kleiner Mauzhertz hier hat gezittert wie Espenlaub, als er vor meiner Tür stand. Es hat etwas gedauert, bis ich aus seinem Gestammel herausgehört habe, dass du Hilfe brauchst.“ Monroe knuffte den Jungen freundschaftlich in die Seite. „Aber sobald er realisiert hatte, dass ich ihn wirklich nicht fressen wollte, ist er aufgetaut. Nicht wahr, Jimmy?“
Der Angesprochene nickte zustimmend und grinste dabei über das ganze, nun wieder menschliche Gesicht.
„Aber jetzt lass uns dich erst mal in ein Krankenhaus bringen. Kannst du laufen?“, fragte Monroe und hielt ihm eine Hand entgegen.
„Es wird schon gehen“, antwortete Nick und ergriff die dargebotene Hand mit seiner linken. ‚Und selbst wenn es nicht gehen sollte, würde eher die Hölle zufrieren, als dass du mich aus diesem Wald herausträgst wie eine holde Maid in Nöten.’ Natürlich sagte er das nicht laut.
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Eine halbe Stunde später hatten sie den Ausgang des Parks erreicht. Der Weg war langwierig und beschwerlich gewesen. Nick hatte sich zunehmend auf Monroe stützen müssen, während Jimmy mit der Taschenlampe vorausgegangen war. Als jetzt das Licht der ersten Straßenlaternen durch die Bäume zu ihnen durchdrang, atmeten sie alle erleichtert auf.
„Eines würde mich noch interessieren, Jimmy“, begann Nick, als sie auf die Straße hinaustraten, und bedeutete Monroe stehenzubleiben, „wie kommt es, dass ein so netter Bursche wie du überhaupt mein Handy klauen wollte?“
„Ich …“ Für eine Sekunde starrte ihn der junge Mauzhertz aus großen, schuldbewussten Augen an, bevor er den Blick auf seine Schuhspitzen richtete und leise antwortete: „Es war eine Mutprobe. Ich … ich wollte dazu gehören, zu der Gang, dann hätte niemand mehr über mich gelacht und …“
„Sind die drei von der Gang auch Wesen?“, unterbrach ihn Nick.
„Ja, der Anführer ist eine Lausenschlange, die beiden anderen sind Reinigens. Sie müssen das verstehen, es ist für unsereins nicht leicht akzeptiert zu werden, meistens machen sich andere Wesen nur über uns lustig, weil … nun ja, wir sind Mauzhertzen …“ Seufzend zuckte er mit den Schultern und verstummte.
Nick tauschte einen verständnisvollen Blick mit Monroe und sagte: „Jetzt hör mir gut zu, Jimmy, niemand wird sich mehr über dich lustig machen. Denn du hast mich heute aus einer schier ausweglosen Lage gerettet …“
„Aber …“
„Ich weiß, was du sagen willst, aber die Tatsache, dass ich durch dich erst in diese Misere geraten bin, lassen wir mal außer Acht. Du hast das doch nicht gewollt, oder?“
„Nein, natürlich nicht!“, protestierte Jimmy sofort vehement.
„Ich weiß, Jimmy, keine Sorge. Aber was du getan hast … du hast dich nicht nur dem großen, bösen Wolf gestellt“, – er grinste Monroe kurz von der Seite an –, „sondern damit auch deiner Angst. Und das nenne ich mutig. Nicht das, was die anderen dir einreden wollen, was mutig sei.“
„Ehrlich?“, hakte der Junge hoffnungsvoll nach.
Gerade als Nick dies bestätigen wollte, hielt ein Polizeiwagen mit quietschenden Reifen neben ihnen an. Sergeant Wu sprang aus dem Auto und sondierte mit einem fachmännischen Blick die Lage. Nick bemerkte, wie er – noch während er auf sie zulief – in sein Funkgerät sprach, konnte aber nicht verstehen, was er sagte.
„Sergeant Wu, wie kommen Sie hierher?“, begrüßte er seinen Kollegen verblüfft.
„Detective Burkhardt, es freut mich, Sie in … äh, halbwegs guter Verfassung zu sehen. Wir haben Sie überall gesucht und schon das Schlimmste befürchtet. Der Krankenwagen ist auf dem Weg.“
„Krankenwagen? Aber woher …?“
„Nun, ich glaube kaum, dass es zu Ihren neuesten Hobbys gehört, sich wie ein nasser Sack an fremde Männer zu klammern. Mal ganz davon abgesehen, dass Sie tunlichst vermeiden, weder Ihren rechten Fuß zu belasten noch den rechten Arm zu bewegen. Ausgerenkte Schulter?“
„Ja“, erwiderte Nick knapp, während der Blutbad neben ihm einen leisen, bewundernden Pfiff ausstieß. Jimmy hingegen trat nervös von einem Fuß auf den anderen und sah aus, als ob er jeden Moment die Flucht ergreifen wollte, doch er blieb tapfer an ihrer Seite. „Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Was machen Sie hier? Woher wussten Sie, dass ich in Schwierigkeiten steckte?“
„Miss Silverton hat sich auf dem Revier nach Ihnen erkundigt, nachdem Sie nicht wie verabredet nach Hause gekommen sind. Daraufhin haben wir per GPS-Signal Ihr Handy verfolgt und es letztendlich bei drei Jugendlichen in einer Wohnung nicht weit von hier aufspüren können“, erklärte der Sergeant und stellte dann die Frage, die ihm offenbar schon die ganze Zeit auf der Zunge gebrannt hatte. „Was ist passiert?“
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Nick ausweichend, als er in diesem Moment den Krankenwagen in die Straße einbiegen sah. „Wichtig ist nur, dass ich ohne Jimmy hier“, – er deutete mit dem Kopf auf den jungen Mauzhertz –, „noch immer in argen Schwierigkeiten stecken würde. Er ist ohne Zweifel der Held des Tages.“
Das stolze Strahlen, das sich nach seinen Worten auf Jimmys Gesicht breitmachte, entschädigte Nick für alles, was passiert war. Nun blieb nur noch eine Sache zu tun …
„Monroe“, flüsterte Nick, als die Sanitäter ihn auf eine Trage verfrachtet hatten und gerade in den Krankenwagen schieben wollten, „sobald ich wieder auf den Beinen bin, werden der Grimm und sein Freund, der Blutbad, drei gewissen Wesen mal einen kleinen Höflichkeitsbesuch abstatten.“
„Gute Idee“, antwortete Monroe und zwinkerte verschwörerisch. „Wir wollen schließlich nicht, dass unser kleiner Held irgendwelchen Ärger bekommt, nicht wahr?“
„Nein, das wollen wir ganz sicher nicht“, bestätigte Nick grinsend.
~~~ Ende ~~~