VII
John wusste nicht recht, wie er auf den neuen Vorfall reagieren sollte und ob ihre Sicherheit immer noch gefährdet war. Zwar hatte Lestrade vorsorglich einen Beamten, zu ihrem Schutz abgestellt, der nun wechselseitig vor dem Haus patrouillierte oder sich in der Küche aufwärmte, doch John traute dieser Maßnahme nicht sonderlich. Daher verstaute er von nun an dauerhaft seine Pistole in seiner Jackentasche, auch wenn ihm diese Vorgehen ein wenig albern vorkam. Außerdem versuchte er Mrs Hudson massiv davon zu überzeugen, sich ein paar Tage bei ihrer Schwester zu erholen. Dann nahm er ersteinmal selbst eine Woche Urlaub und verbrachte diesen fast rund um die Uhr in Mrs Hudsons Küche vor dem Nachrichtensender oder wild durch die Tageszeitungen blätternd, die dank Sherlocks unerloschenem Dauerabo jeden Morgen pünktlich im Briefkasten landeten.
Kaum eine Woche später waren der Finanzminister und die Innenministerin der allumfassenden Großjagd erlegen und nahmen nach peinlichen Fernsehinterviews beschämt ihren Hut. Wann ihnen der Justizminister folgen würde war nur noch eine Frage von Stunden.
Die allgemeine politische Großwetterlage erschien unwettertrüb, um nicht zu sagen erschreckend finster und die Allgemeinwetterlage schloss sich diesem Phänomen gehorsam an.
Es regnete schon seit zwei Tagen fast durchgehend. Die tiefliegenden bleischweren Wolken schluckten jedes Tageslicht und hüllten London in ein frustrierendes Defusum aus Grau. Die Temperaturen kletterten kaum über die 2°C Marke, und das nach ersten zaghaften Frühlingsanzeichen in den Tagen zuvor. Alle froren bitterlich. Mit hängenden Schultern und hochaufgeschlagenem Kragen eilte jeder hektisch seinen Pflichten und Erledigungen nach, nur um schnell wieder heimkehren zu können. Bleierne Depression hing über allem und in John manifestierte sich an diesem Samstagvormittag der Wunsch, einfach ins Bett zurückzukehren und es nach Möglichkeit nicht mehr zu verlassen. Das Schrillen der Türklingel unterbrach diesen gerade gefassten Vorsatz abrupt. Wer zum Henker kam bei solch einem Sauerwetter auf die Idee Besuche zu machen? Mrs Hudsons, bis zu den Ellenbogen bemehlte, Hände steckten in einer großen Teigschüssel fest. Für den Nachmittag hatte sie ihre Abreise zu ihrer Schwester geplant, doch ließ sie es sich nicht nehmen, zuvor noch ausgiebig dafür zu sorgen, dass John in den nächsten Tagen nicht verhungerte. John warf gelangweilt die Zeitung auf den Küchentisch und schlurfte zur Haustür. Das Klingeln wiederholte sich ungeduldig.
„Ja!“, brüllte er verärgert. „Verdammt. Ich komme!“
Der Anblick der ihn beim Aufreissen der Tür erwartete, traf ihn allerdings etwas überraschend. Am grauen Bordstein des nassen Gehsteiges wartete eine spiegelglänzende dunkle Limousine mit aufgeschlagener Fondwagentür auf ihn. Ein diskreter schwarzbemäntelter Herr mit schwarzem Regenschirm und stoischem Gesichtsausdruck stand geduldig daneben. „Nein“, stöhnte John auf und warf wütend die Tür wieder ins Schloss. Er hatte die Küche noch nicht wieder erreicht als es wieder klingelte.
„John“, nörgelte Mrs Hudson. „John, nun gehen Sie doch endlich öffnen!“
„Ich will aber nicht“, maulte er störrisch, blieb einen Augenblick unschlüssig stehen, sich fragend, ob er Mrs. Hudson die Lage erklären sollte oder ob es besser wäre, alles einfach auf sich beruhen zu lassen und zu hoffen, dass die Sache damit einfach verschwinden würde. Sie verschwand nicht, sondern manifestierte sich durch erneutes Schellen.
„John!“ Wild mit ihren teigbehangenen Händen fuchtelnd fegte Mrs. Hudson zur Eingangstür.
„Schon gut“,seufzte John geschlagen und angelte seine Jacke vom Haken im Flur. „Ich denke Mrs Hudson, den Lunch lasse ich heute ausfallen.“ Resigniert schlurfte er aus der von ihr aufgerissenen Tür und kletterte an ihrem verwirrten Blick vorbei in den Fond des wartenden Wagens.
„Hallo Mycroft. Wann haben Sie eigentlich mal vor Ihre Methoden etwas variabler zu gestalten? Die Sache verliert auf die Dauer ihren Reiz. Um was geht’s diesmal?“
„Einen wunderschönen guten Tag, John. Scheußliches Wetter heute, nicht wahr?“ Das höfliche Grinsen auf Mycrofts Gesicht schien das alte, doch kam es John so vor, als wenn ein gehetztes Flackern die sonst stets so konzentrierten Augen Mycrofts beherrschte. Neben dem Fahrer stieg der diskret schweigsame Mann ein, nachdem er Johns Tür geschlossen hatte. Langsam setze sich der Wagen in Bewegung und fädelte sich in den dahinfließenden Verkehr auf der Baker Street ein.
„Wissen Sie, Mycroft“, schnaufte John wütend. „mir ist ja bekannt, das Traditionsbewusstsein zu Ihren besonderen Tugenden gehört, aber sind Sie nicht auch der Meinung, unsere kleinen Rendezvous sollten irgendwann einmal aufhören? Es gibt nichts mehr was ich für Sie tun kann. Ihre angeblichen familiären Bemühungen sind ja ganz rührend, aber ich denke, ich gebe Ihnen hier und jetzt was Sie unbedingt haben wollten und dann lassen Sie mich da vorne an der Ecke wieder raus und wir sehen uns nie wieder.“
John zog das Duplikat von Irenes Handy aus der Jackentasche warf es Mycroft in den Schoß und legte seine Hand demonstrativ auf den Türgriff. „Okay Jungs, da vorne mal anhalten. Zurück nehme ich die U-Bahn.“
Der Wagen fuhr weiter ohne seine Geschwindigkeit zu verringern. Mycroft schüttelte missbilligend den Kopf ohne das Handy überhaupt zu beachten.
„John, John. Wie immer missverstehen Sie die Situation gänzlich. Ich frage mich manchmal, wie Sherlock das mit Ihnen nur ausgehalten hat. Andererseits, gewisse Impulsivität wirkt erfrischend und Ihre unbestrittene Loyalität meinem Bruder gegenüber, ließ ihn möglicherweise über kleine Fehler hinwegsehen. Nett, dass Sie mir dieses Ding hier mitgebracht haben...“ Er fegte mit einer wegwerfenden Handbewegung das auf einmal so geschmähte Handy von seinem Schoß auf die Polster und zog sein eigenes Telefon aus der Manteltasche hervor.
„Sie haben recht, dass ist der Grund warum ich Sie heute wiedereinmal aufsuche. Allerdings dürfte dieses Teil dort kaum das von mir gewünschte Handy sein.“
John versuchte es mit der besten Unschuldsmiene zu der er momentan fähig war. Wie zum Teufel konnte Mycroft sofort wissen das dieses Handy nur ein Duplikat war?
„Ich versteh nicht. Noch vor ein paar Tagen sind Sie bei uns eingebrochen nur...“
„Ich habe Sie besucht, John. Genaugenommen, bin ich nur in der Wohnung meines Bruders zum Zwecke der Nachlassregulierung vorstellig geworden, erinnern Sie sich?“
„Ja, und Sie wollten dieses verdammte Handy dort, und nun?“
„Ich wollte nicht dieses Handy, John, ich wollte Irene Adlers Handy. Und rein zufällig weiß ich derzeit ganz genau, wo sich ihr Handy momentan befindet...und das, ist nicht in diesem Wagen.“
„Okay“, Johns Gesicht verformte sich zu einer beleidigten Schnute. „Und wo befindet es sich und was habe ich damit zu tun?“
Mycroft schob John sein eigenes Smartphone vor die Nase. Eine geöffnete SMS leuchtete darauf.
Kensington Church Street - Ecke Kensington Rd, Buchladen, 13:00 Uhr
las er.
„Ja und?“
„Nun John, das Handy befindet sich genau zu diesem Zeitpunkt an genau dieser Adresse.“
„Oh, na wie schön für Sie. Und was soll ich bei der ganzen Sache?“
„Sehen Sie, John“, Mycroft räusperte sich und erstaunt bemerkte John in seinem Gebaren so etwas wie Unbehagen wenn nicht sogar Unsicherheit. Die Hände, die das Handy wieder wegsteckten, bebten kaum merklich und auf Mycrofts Stirn glaubte er einen leichten Schweißglanz auszumachen.
„Ich versuche seit geraumer Zeit dieses bewusste Smartphone zu orten. Es war mir nicht möglich.“
„Oh, wie Schade. Haben Ihre Jungs ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht?“
„Nein, nein. Es war einfach nicht eingeschaltet und von daher...“
.
„Mycroft Sie selbst haben dieses Handy gelöscht, es kann nicht benutzt werden.“
„Und wie erklären Sie sich dann die SMS, die ich Ihnen soeben gezeigt habe? Sie wurde heute Vormittag von eben diesem Handy verschickt.“
John stöhnte. „Verdammt, verdammt. Was ist das nur mit Euch Holmes? Auch eine Familientradition, oder was? Kann denn nichts passieren, ohne dass ihr sofort eine Verschwörung oder ein Drama daraus macht? Wer weiß wie und wo das Handy die ganze Zeit war. Möglicherweise lag es irgendwo rum und jetzt...“
„John!“, unterbrach Mycroft ihn erstaunlich streng und seine Hände verkrampften sich auf seinem Schoß angespannt ineinander. „Ich will Ihnen jetzt einmal etwas erklären. Dieses Handy, Miss Adlers Handy, wurde gelöscht, wie Sie sehr richtig feststellten. Oder genauer gesagt, seine Dateien wurden entnommen und es auf Werkseinstellung zurückgesetzt. Da Festplatte, Akku und Chip vorbeugenden Sicherungsvorkerrungen der Dame unterlagen, war uns mehr nicht möglich. Und an dem bewussten Morgen.... an dem Morgen vor Sherlocks Tod, habe ich versucht ihn zu erreichen.“
„Sie haben versucht mich zu erreichen.“, korrigierte John.
„Ja, weil Sherlock mir nicht antwortete, deswegen habe ich es danach bei Ihnen versucht.“
„Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, was damals gerade passierte!“ John spürte wie mit den erneut in ihm aufsteigenden Bildern der Vergangenheit, die Wut in seinem Bauch zu einem krampfartig würgenden Klumpen wurde.
„Ich weiß, aber zuvor hatte ich Miss Adlers Handy freigeschaltet und erwartet, dass Sherlock darüber mit mir Kontakt aufnehmen würde.“
Johns Kinn klappte herunter. „Über dieses Handy? Warum Herrgott nochmal? Sie hätten ihn doch einfach nur.....“ John schluckte und starrte Mycroft mit offenem Mund an. Was wurde hier eigentlich gespielt? „Sie Mycroft“, zischte er anklagend. „Sie, verdammt nochmal, haben Moriarty die Daten von Sherlock gegeben...“
„Ich sagte damals bereits, John, ein Versehen, ein absolutes Versehen. Es tut mir schrecklich leid, was daraus erwachsen ist.“
„Ja, genau das sagten Sie schon. Und Sie haben ihm nicht geholfen. Überhaupt nichts haben Sie getan – obwohl Sie doch die Macht dazu gehabt hätten.“
„Ich wusste doch nicht, zu was das alles führen würde, John. Ich konnte doch nicht wissen, dass er Selbstmord begehen würde.“
„Und warum haben Sie dann versucht ihn zu erreichen..? Und komischerweise nicht über sein eigenes Handy? Mycroft was ist da eigentlich wirklich gelaufen?“
Mycroft starrte aus dem gegenüberliegenden Fenster in das Grau der vorbeiziehenden Häuserfassaden. John vermochte sein Gesicht nicht auszumachen. Seine Hand strich nervös durch sein schütteres Haar und er seufzte leise.
„John, ich habe schon damals versucht zu erklären, dass Moriarty uns alle in der Hand hatte. Dieser Code, er war so enorm wichtig, John. Sie müssen das doch verstehen.“
„Und da haben Sie lieber zugesehen, bei all dem zugesehen, bevor Sie etwas unternahmen. Sie haben Sherlock allein gelassen, in der Hoffnung, auf diese Art Moriarty zu bekommen. Ich sage Ihnen jetzt mal, was ich Ihnen schon damals sagen wollte: Mycroft, Sie sind ein verdammtes Schwein.“ John stieß verächtlich Luft aus. „Und Sie haben nichts erreicht, gar nichts. Moriarty foppt Sie weiter. Sherlock ist tot. Niemand ist mehr da, der Moriarty aufhalten könnte. Und jetzt spielt er mit ihnen weiter. Er bringt Sie und die ganze Nation zum Tanzen und Sie wissen vor Angst nicht mehr ein noch aus. Ja, jetzt fahren Sie sogar einem mysteriösen Handy hinterher. Der große mächtige Mycroft zittert. Nett, dass ich das nochmal erleben darf. Sehr nett von Ihnen. War das der Grund für meine Mitfahrt?“
Mycrofts Kopf fuhr herum und John schrak vor dem harten Ausdruck in dessen Gesicht zurück.
„Moriarty? Wer spricht denn hier von Moriarty? Nein, der ist unseren Fingern schon lange entglitten. All diese Verhaftungen, diese Hinweise für die Polizei, glauben Sie im Ernst, John, Moriarty würde soweit gehen seine eigenen Leute reihenweise zu opfern?“
„Ich weiß nicht, warum nicht? Wenn er Sie und halb Grossbritannien mit dazubekommt. So wie es im Moment den Anschein hat. Warum nicht. Was scheren ihn bei so einem Coup eigene Verluste? Wer sollte sonst dahinter stecken?“
Mycrofts Augen blitzten auf. „Gut! Sie fangen an die richtigen Fragen zu stellen. Sehen Sie, wir biegen gerade in die Church Street. Nun, mein lieber John, es wird Zeit für uns beide, dass unsere Fragen beantwortet werden. Möglicherweise sind wir meiner Vermutung schon ganz nahe. Womit ich dann ihre erste Frage beantworten kann.“
„Welche erste Frage?“
„Warum ich Sie hierher mitgenommen habe, John.“ In Mycrofts Augen glomm etwas das es John eiskalt den Rücken hinablaufen ließ. Ein urzeitlicher Instinkt in seinem Körper signalisierte Gefahr.
„Wenn ich Recht habe mit meiner Vermutung, lieber John...“, Mycrofts Lächeln erschien nun wieder die alte überlegene Manie angenommen zu haben und seine Stimme schwamm vor zuvorkommender Freundlichkeit. „Dann ist das eine Angelegenheit, die uns beide etwas angeht. Ich denke, ich bin Ihnen eine kleine Überraschung schuldig...vielleicht könnte sich daraus ja sogar eine mehrseitige Überraschung für Sie und unseren Gastgeber entwickeln.“
Der Wagen hielt vor einem altmodisch wirkenden Ladengeschäft, dessen Schaufensterauslagen es als Buchladen* kennzeichneten. Mycroft stieg als erster aus und spannte den Regenschirm auf, bevor er ihn gönnerhaft auch über Johns Kopf hielt und mit ihm, wie es schien, im besten Einvernehmen,das Geschäft betrat. Der Wagen und die beiden schweigsamen Männer blieben zurück. Die Türglocke klingelte hell. Gemeinsam standen sie in einem großen, bis an die Decke mit mehrgeschossigen Bücherregalen angefüllten Raum, vollgepfropft mit alten dunklen Drucken, die einem anderen Jahrhundert zu entstammen schienen. Ein Geruch nach Holz, Leder, Staub und Verfall lag in der Luft. Die Verkaufstheke bestand aus einem wuchtigen, mahagonifarbenen Pultblock mit einer großen messingbeschlagenen Kurbelkasse. Und obwohl an der Decke helle Neonröhren brannten wirkte der ganze Raum eher düster und dennoch auf eine besondere Weise anheimelnd, wie ein zurückgebliebenes Refugium aus einer längst verschwundenen Zeit. An dem hinteren der Regale lehnte eine hohe, mit Rollen versehene Schiebeleiter. Ein langer ältlicher Mann, mit der hageren Figur eines mit den Jahren im Bücherstaub vertrockneten Bibliothekars, kletterte auf deren oberen Stufen herum. Sein runzliges Gesicht, dessen untere Hälfte von einem verwuschelten Bart und dessen oberer Teil hinter einer runden Brille verborgen lag, schätzte skeptisch seine beiden Besucher ab. Die Frage, was zwei solch verschiedene Männer wohl an einem derartig ungastlichen Tag in sein Antiquariat verschlagen haben könnte, spiegelte in seinen Brillengläsern. Dann kletterte er, für sein ältliches Erscheinungsbild, erstaunlich behände herab und warf einen Stapel Bücher* die unter seinem linken Arm festklemmten auf den Ausstellungstisch vor ihnen. Staub wirbelte auf und stach John unangenehm in die Nase.
„Die Herren wünschen?“, krächzte der Mann und hinter seinen dicken Brillengläsern funkelten zwei stahlgraue Pupillen stechend. John überließ Mycroft die Kontaktaufnahme und heuchelte statt dessen ein gewisses Interesse an dem abgeworfenen Bücherstapel vor ihm. Skeptisch beäugte er einen ornithologischen Sammelband und eine deutschsprachige Geschichtsabhandlung und zog dann unter beiden einen dicken, mit orientalischen Goldschnittornamenten gezierten, Wälzer mit dem Titel 'Der heilige Krieg' hervor. Der Ladenbesitzer schoss auf ihn zu: „Sie sind ein Kenner, junger Mann. Eine ganz, ganz seltene Erstausgabe. Macht sich mit Sicherheit sehr kleidsam in einer guten Sammlung. Absolut attraktiver Lückenfüller!“
„Ehm“, John warf das Buch erschrocken zu den anderen zurück und brachte zwei absichernde Schritte zwischen sich und sein scheinbar falsch interpretiertes Expertentum.
Mycroft opferte ihm einen strafenden Blick für den Zwischenfall und räusperte sich vernehmlich.
„Wir sind eigentlich nicht hier um etwas zu kaufen.“
„Nicht?“ Der dürre Bibliothekar schürzte beleidigt die Lippen. „Warum dann? Bin keine Wärmehalle. Tropfen Sie mit ihrem Schirm woanders das Parkett nass!“ Mürrisch drehte er sich wieder seiner Leiter zu.
„Wir wurden hierher eingeladen“, erklärte Mycroft höflich.
„Oh“ Der Alte befand es nicht mehr für nötig sie anzusehen. Geschäftig kletterte er wieder auf sein Regal zurück. „Der dreizehn Uhr Termin?“ Desinteressiert wühlt er zwischen abgeschabten Buchrücken, zog Werke hervor, ordnete sie neu und murmelte unverständlich vor sich hin.
Mycroft seufzte geduldig.
„Sie sind pünktlich“, kicherte der Alte. „Sehr pünktlich. Vorbildlich, wie mir scheint.“ Er schnappte sich einen Atlas und stieß sich kräftig mit der Leiter vom Regal ab. Ratternd rollte sie zwei Meter vorwärts und kam an scheinbar genau passender Stelle wieder zum halten. Der Atlas verschwand zwischen anderen Nachschlagewerken. „Aber zu zweit“, murmelte er nachdenklich, „von zweien war nicht die Rede.“
„Nun, der Herr ist ein Freund“, schnarrte Mycroft und missachtete den entsetzten Blick mit dem John diese Feststellung kommentierte. „Ich würde es daher vorziehen die Einladung auf uns beide auszudehnen.“
Der Alte zuckte gleichgültig die Schultern und rollte auf seiner Leiter und einem gerade erbeuteten Lexikon in seiner Hand, zurück zu seinem Ausgangsort. „Mir doch egal. Da drüben...“, er nickte herrisch über die Schulter zum Kassenpult hinüber. „Dort die Tür!“ Mycroft und Johns Blicke wandten sich gemeinschaftlich einer großen Zimmertür hinter der Kasse zu. Die abweisende Aufschrift Privat prangte quer darüber.
„Gehen Sie. Und lassen Sie mich in Ruhe!“ Eine Aufforderung, der man bei der allumfassenden Freundlichkeit dieses Zeitgenossen, nur zu gern nachkam.
Die Tür führte zu einem großen düsteren Raum. Alte Dielen knarrten unter ihren Füßen. Das wenige vorhandene Licht verfing sich in den dunklen Holzvertäfelungen der Wände und wurde von diesen regelrecht eingesogen. Es roch nach abgestandener Luft und Fußbodenpolitur. John drückte auf den Lichtschalter, doch sein Bemühen blieb ergebnislos. „Das Licht ist kaputt“, kommentierte er ziemlich sinnlos. Mycroft schritt auf dem knarrenden Boden vorsichtig vorwärts. Die Tür, gezogen von einer schweren mechanischen Schließfeder, schlug hinter ihnen unschön krachend ins Schloss. John schrak zusammen und sah sich für einen Augenblick skeptisch nach ihr um, bevor er den Raum einer intensiveren Prüfung unterzog. Sie schienen in einem großen Saal zu stehen, der allem Anschein nach, für gelegentliche Vorlesungen oder kleine Theateraufführungen genutzt wurde. Klappstühle standen in hinteren Reihen umher oder lehnten gestapelt an den Wänden. Es gab ein einziges milchiges Fenster. Es gewann dem düsteren Londoner Regenwetter ein wenig Licht ab und streute es in einem grauen, diffusen Schimmer auf einen kleinen Tisch mit Stehlampe und zwei Sesseln. Die Sitzgruppe diente wahrscheinlich bei Lesungen dem jeweiligen Autor als Bühne. Mycroft trat hinzu und knipste die Lampe an. Zu ihrer beider Erstaunen funktionierte sie. Sie verströmte den typischen gelblichwarmen Schein einer Leselampe, gebündelt auf ihre unmittelbare Umgebung, ohne dabei die dunkle Tiefe des Saales zu durchmessen. Mycrofts vorgebeugte Gestalt erstarrte für einen Augenblick über dem Lichtkegel. John erkannte was seine Augen fixierten. Auf der Tischplatte neben der Lampe lag ein dunkles Smartphone. John identifizierte es sofort. Mycrofts Hand zuckte instinktiv danach, verharrte dann aber mitten in der Bewegung. Angespannt wie ein lauerndes Raubtier richtete er sich wieder auf und warf einen scharfen Blick in die Tiefe des Raumes. Seine Nasenflügel bebten als er jeden seiner Sinne anspannte, sich umsehend, riechend und fühlend versuchte die Gefahr auszumachen. John schluckte bei Mycrofts Anblick hart, spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten und sein Herz zu hämmern begann. Seine Hand zuckte nach der verborgenen Waffe in seiner Jackentasche. Der kalte, harte Stahl beruhigte seine gereizten Nerven augenblicklich und verwandelte sie in abwartende Bereitschaft. Der lauernde Moment dehnte sich für den Bruchteil von Sekunden in Minuten, dann rührte sich irgendetwas in der dunklen undurchdringlichen Tiefe des Saales. Mycrofts Augen verengten sich zu stahlharten Schlitzen. Anders als John, schien er ganz genau zu wissen, was sie nun erwartete und er machte sich kampfbereit dafür.
***
Buchladen in der Church Street – im Canon in 'Das leere Haus' - der Geschichte, in der Sherlock Holmes von den „Toten“ wiederaufersteht - Sherlock Holmes konspirative Adresse
Bücher – alles Bücher die Holmes, verkleidet als alter Buchhändler, bei dem Wiedersehen mit Watson bei sich trug. Den Heiligen Krieg bietet er ihm als idealen Lückenfüller für seine Büchersammlung an