@Azrael: Ich mir bei diesem Urteil auch nicht. Die angedeuteten Veränderungen sollten Veränderungen illustrieren, die einerseits andeuten, dass die Kirche sich zu entwickeln versucht, andererseits aber auch eine Art Verzweiflung ausdrücken. Die konservativen Elemente der Kurie würden so einen Kurs wahrscheinlich niemals mittragen, wenn es für die Kirche nicht um Sein oder (in absehbarer Zeit) Nichtsein geht. Und das Ende ist zwar recht düster, aber mir gefiel es so
@Santanico Pandemonium: Diese Erkenntnisse werden in absehbarer Zukunft in der Tat von Bedeutung sein. Mehr verrate ich darüber aber noch nicht. Und McKay ist tatsächlich noch am Leben und sehr rüstig. Ich hatte ihn in einer Folge der ersten Staffel auftauchen lassen, falls du dich erinnerst.
@Colonel Maybourne: Der Name ist geklaut. Der Rest ist von einem real existenten Geistlichen aus Frankreich orientiert, der sich sehr für die Ökumene eingesetzt hat. Und Glick wird mit dieses Schicksal ertragen müssen. Ich muss aber zugeben, dass ich auch etwas sadistische Freude daran hatte ihn zwischen so viele Gläubige zu werfen.
@Jack-ONeil: Danke für die Einschätzung. Wie schon gesagt war die Wahl dieses progressiven Papstes auch teilweise eine Verzweiflungstat, um nicht völlig von den Veränderungen dahingerafft zu werden. Und natürlich ist die Technologie der Antiker ziemlich heftig. Immerhin sind sie auch in dieser FF eines der fortschrittlichsten Völker aller Zeiten.
@xeeleuniversum: Danke für das Drücken des Buttons.
Und hier die nächste Folge. Gesamtlänge 22 Seiten. Nächstes Mal geht es dann wieder um Jules. Der hier enthaltene Liedtext gehört zum Lied Alabama 58, auf das ich keinerlei Ansprüche erhebe. Bleiben sie uns treu, empfehlen sie uns weiter, viel Spaß beim Lesen.
Episode 4: Der Feind im Inneren
Moskau zählte zu den Städten, deren Gesicht und Wahrnehmung sich im Laufe der Jahre immer wieder gewandelt hatte. Zu lang war sie in der Vorstellung vieler Westeuropäer nur eine rückständige Eishöhle im Griff eines nie enden wollenden russischen Winters gewesen. Später hatte ein Versuch der sowjetischen Führung die Sicherheit und den reibungslosen Ablauf der olympischen Spiele von 1980 zu gewährleisten die Vorstellung geweckt, die Stadt sei voll von Geheimagenten, die jeden einzelnen Schritt ihrer Bewohner überwachten, hatte man doch versucht ein freundliches Bild zu vermitteln, indem man die meisten Sicherheitskräfte in zivil ausstaffiert hatte, ohne dabei zu bedenken Anzüge unterschiedlichen Schnitts zu beschaffen, so dass auf unbeabsichtigte Weise doch wieder eine Art Uniform vorherrschte. Nach dem Fall der Sowjetunion wich dieses Bild dem brutaler Staatsgewalt, die sich nicht um ihre Bürger scherte und Moskau zum Forum Neureicher machte, die bar jeden guten Geschmacks ihr Geld verprassten.
In den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts war von alledem nicht mehr viel zu spüren. Moskau, Metropole an der Moskwa, größte Stadt des vereinten Europas, hatte sich unlängst neu erfunden und war zu einer Stadt der Freigeister, Künstler und Querdenker geworden, hatte sich gewandelt, gleich einem Schmetterling, der aus seiner Puppe ausbricht oder einer Blüte, die sich zum ersten Mal öffnet. Als 2019 die weltweiten Ressourcenkonflikte erneut zu schwelen begannen und die politischen Eliten Russlands, das nach dem Zusammenbruch der Rohstoffmärkte einige Jahre zuvor wirtschaftlich am Boden gelegen hatte, die Chance zum Aufbruch in ihren kleinlichen Machtkämpfen und einem Sumpf der Korruption zu verspielen drohten, hatte sich das geplagte Volk auf den Straßen der Stadt seine Stimme erhoben, so laut, dass niemand es hatte überhören können. Der Ruf nach Freiheit hatte damals Freidenker und Reformer aus ganz Russland in die Hauptstadt strömen lassen. Viele waren geblieben. Sie zelebrierten die Rechte, die sie sich erstritten hatten, und die neuen Lebenschancen, die sich ihnen eröffneten, auf eine leichte und lustvolle Art und machten Moskau zu einem Zentrum neuen europäischen Kulturschaffens. Im ausklingenden Februar 2036 überlegte Pavel Klimow allerdings erneut die Systemfrage zu stellen.
Er duckte sich im letzten Moment, so dass der Pflasterstein seinen Kopf eine Hand breit verfehlte und gegen den Kunststoffschild des Polizisten hinter ihm krachte. Äußerlich konnte die Attacke ihn nicht aus seinem Gleichmut werfen, doch innerlich war er aufgewühlt. Wut, sowohl auf die Menge, die vor ihnen auf dem roten Platz tobte, als auch auf das System, das nicht zuließ, dass sie für Ordnung sorgten, kochte heiß in ihm und die Finger seiner rechten Hand kneteten den Griff seines Schlagstockes unaufhörlich. Russland mochte seit 2019 de Facto ein Teil der europäischen Union sein, de Jure jedoch war es nur ein assoziierter Staat. Zwar hatte die Regierung der russischen Föderation 2019 fast all ihre Macht an Brüssel abgegeben, doch zu einem vollständigen Beitritt waren die Herren des Kreml nicht bereit gewesen, egal wie laut das Volk ihn gefordert hatte. So trat die Duma immer noch regelmäßig zusammen, hatte aber fast nur noch repräsentative Befugnisse. Und trotzdem konnte dieses Parlament, das kaum noch mehr als ein Abstellgleis für Politiker war, die man in Brüssel nicht mehr brauchen konnte, die EU ins Wanken bringen. Die Duma war befugt das Assoziierungsabkommen mit Europa zu kündigen. Und genau darüber wurde derzeit hinter den Mauern des Kreml – die Duma trat mittlerweile im alten Senatspalast zusammen und nicht mehr im alten Sowjetbau an der … – verhandelt.
Nachdem das Parlament in Brüssel – übrigens auch mit großer Zustimmung der russischen Abgeordneten – der in der Öffentlichkeit als ‚Maybourne-Plan’ bekannten Gründung eines planetenübergreifenden Bündnisses zugestimmt hatte, hatte die Organisation Terra Nostra, die eine totale Aufgabe allen Engagements auf anderen Welten forderte, Unterstützung mobilisiert, die sie bei Duma-Abgeordneten besaß, um den Plan doch noch zu Fall zu bringen.
Ihr Anführer, ein gewisser Lewan Andronikaschwili, hatte die Bühne, die diese Abstimmung ihm bot, natürlich zu nutzen gewusst und Demonstrationen mit Anhängern organisiert, die er aus ganz Europa hatte heranschaffen lassen. Auch heute sprach er wieder auf einer Bühne im Botanischen Garten und peitschte die Menge auf. Bald zwanzig Jahre Europa hatten Pavel mittlerweile genug Demokratieempfinden eingehaucht, dass er bereit war dieses Verhalten als politisch legitim zu akzeptieren. Doch die Folgen… Während einer der zahllosen Demonstrationen, die Terra Nostra organisiert hatte, hatten Studenten an der Lomonossow-Universität ein Transparent an der Fassade entrollt, das die isolationistischen Vorstellungen der Demonstranten verspottete, woraufhin einige von ihnen voller Übereifer nichts besseres zu tun gehabt hatten, als zu versuchen es Anzuzünden. Die Polizei war eingeschritten, es war zu einer Prügelei gekommen, Bilder davon waren durch die Medien gegeistert und eine Woche später glich die Stadt einem Tollhaus. Autonome beider politischen Extrema und Krawallmacher aller Couleur hatten die größten Straßenschlachten seit 2017 gewittert und waren in Scharen in die Stadt eingefallen. Es nahm absurde Ausmaße an und das die Polizei von Kiew vor drei Tagen sogar eine Gruppe Hooligans aus London abgefangen hatte, die nach Moskau hatte weiterreisen wollen, zeigte, dass das hier nichts mehr mit politischer Meinungsäußerung zu tun hatte. Andronikaschwili stahl sich indess gekonnt aus der Affäre und bestritt jedwede Schuld, so dass es an der Polizei hängen blieb die Situation wieder zu klären.
Wäre es nach Pavel gegangen, hätten sie die ganze Stadt schon vor Tagen durchkämmt und jeden einkassiert, dessen Nase ihnen nicht gefiel. Doch der Polizeidirektor hatte die klare Devise ausgegeben nur im Extremfall einzugreifen, um keine weitere Eskalation zu riskieren. So starrte Pavel, der als Einsatzleiter mit in der Phalanx der Polizisten stand, die den Kreml schützten, nur in die Menge, während er leise seine eigene Ohnmacht verfluchte. Leise murmelte er: „Elende Dissidenten. Gebt mir einen Grund ein paar Schädel einzuschlagen.“ Der Mann neben ihm, der ihn gehört hatte, meinte darauf: „Dissidenten, Pavel Valeriowitsch? Doch wohl eher dumme Schläger.“ Pavel wandte dem anderen sein Gesicht zu und sah ihm direkt in die Augen. Nach einigen Augenblicken wich dieser seinem Blick aus und sah wieder in Richtung des Platzes. „Leute, die sich auf so eine Art gegen Staat und Allgemeinheit wenden“, erklärte er mit schneidender Stimme, „sind für mich Dissidenten. Sie stellen sich selbst abseits der Gesellschaft, fordern aber trotzdem von ihr beschützt zu werden. Geschmeiß. Egal, ob nun politisch motiviert oder nicht. Dissidenten.“
Der andere Antwortete nicht, sondern gab statt dessen vor sich auf irgendetwas am anderen Ende des Platzes zu konzentrieren, während er ständig auf und ab wippte, um die beißende Kälte aus den Gliedern zu vertreiben. Pavel wandte seinen Blick wieder geradeaus. Es wirkte surreal mit anzusehen, wie die Schläger immer wieder auf die Gruppen von Polizisten und privaten Sicherheitskräften losgingen, die den Platz bewachten, während um sie herum die Baudenkmäler vom Schnee bedeckt dalagen, wie auf einer Weihnachtspostkarte. Wenn er die Augen schloss und lauschte, konnte er sogar den schwachen Klang der Kaufhausmusik hören, die aus dem GUM herüberscholl. Einer seiner Mundwinkel zuckte in Andeutung eines Lächelns, dann erstarrte sein von ersten Falten und Altersflecken gezeichnetes Gesicht wieder zu einer Maske der Ernsthaftigkeit. Sie standen noch einige Zeit so dar, dann flog von irgendwo aus der Menge auf einmal ein Molotow-Cocktail in die Reihen der Polizisten. Genug um aggressiveres Vorgehen zu rechtfertigen. Er drückte den Sende-Schalter seines Funkgeräts und sagte: „Vorwärts, Leute. Räumen wir den Platz ein wenig auf.“ Sie setzten sich in Bewegung. Zuerst langsam, dann gingen sie in einen kurzen Spurt über. Pavel selbst schwang schon im Lauf seinen Schlagstock und nahm die volle Wucht des Ansturms mit, als er den ersten Schlag ausführte. Er schickte einen großen, massigen Krawallmacher, ein wahrer Berg aus Fleisch, der selbst ein mit einem großen Nagel durchbohrtes Brett geschwungen hatte, mit einem Hieb zu Boden. Dann setzte er sich mit einem Satz über seinen gestürzten Gegner hinweg und verlor sich im Getümmel der Straßenschlacht.
Im Kreml:
Maxim Anochin lief gefolgt von zwei Leibwächtern zügig doch ohne Hast auf einen der Seitenausgänge des Senatsgebäudes zu und sah dabei mit einem fröhlichen Lächeln zu dem Mann, der neben ihm ging. „Und“, fragte er, „waren sie mit dem Verlauf der Debatte zufrieden?“ Der Andere zuckte mit den Schultern. „Wie könnte ich es sein. Der Antrag ist nicht vom Tisch.“ Maxim lachte schallend. „Keine Sorge, mein Freund. Zwei Mal hinter einander ein klares Votum für die Fortsetzung der Assoziation und die Akzeptanz des Maybourne-Planes. Und beim dritten Mal hätten sie nicht mehr mit Formfehlern argumentieren können. Nein, dass Andronikaschwilis Handlanger eine Vertagung beantragt haben, ist eine reine Verzweiflungstat. Sie haben gehofft alles im Schnelldurchgang durchzupauken und die Zeit arbeitet gegen sie. Es würde mich wundern, wenn es überhaupt noch eine letzte Abstimmung geben würde.“ Sein Gegenüber seufzte. Er war einige Jahre jünger als der Russe und sein Äußeres verriet seine mediterrane Abstammung. „Ich wünschte ihr könnte ihren Optimismus teilen.“ Amüsiertes Schnauben. „Keine Sorge. Je länger diese Krawalle da draußen dauern, desto besser für uns. Es gibt zwei Sorten von Abgeordneten in der Duma. Das eine sind notorische Querulanten, die man nirgendwo sonst haben wollte und die anderen alte Männer, die man aus der Realpolitik weggelobt hat. Insbesondere letztere hassen solche Unordnung. Und raten sie mal, wem sie die Schuld geben werden.“
Nun lächelte der andere. „Welcher Typus sind sie?“ Maxim dachte nach. Schließlich antwortete er: „Wahrscheinlich ein wenig von beidem.“ Eine Antwort, die zutreffender war, als man es zuerst vermuten mochte. Er hatte während des politischen Umbruches 2019 zu den stärksten Befürwortern der Assoziation gehört und in den Jahren danach für die Region Rostow im europäischen Parlament gesessen. Irgendwie musste ihm dort das Kunststück gelungen sein zugleich die richtigen Leute zu beeindrucken und zu energisch die Interessen seiner Wähler zu vertreten, denn nach drei Jahren war ihm ein Posten als subalterner Kommissar für Korruptionsbekämpfung in den assoziierten Gebieten angeboten worden, was zwar eine Art Beförderung in ein wichtiges Amt darstellte, ihn zugleich aber auch aus dem Zentrum der Macht entfernte. Nach mehreren Jahren in jenem Amt war er schließlich auf verschlungenen Pfaden in der Duma gelandet, wo er seinen politischen Lebensabend verbringen konnte. Ja, beschloss er, für ihn war es der verdiente Altersruhestand. Er hatte in seinem Leben genug Leute geärgert, um behaupten zu können etwas geleistet zu haben. Und die heutige Debatte war noch eine letzte willkommene Erinnerung an frühere Zeiten. Er lachte erneut und klopfte dem Südländer auf die Schulter. „Heute haben wir einen großen Sieg errungen. Zur Feier lade ich sie ein. Ich kenne da ein hervorragendes Restaurant am Arbat. Schon mal im Praga gegessen?“ „Nein.“ „Gut. Sie werden es lieben.“ „Danke für das Angebot. Wenn sie erlauben möchte ich zuerst aber noch einmal in meinem Hotel vorbei.“
Sie verließen das Gebäude und gingen in Richtung der Dreifaltigkeitsbrücke. Diese wurde normalerweise nur von Touristen frequentiert, doch angesichts der Lage auf dem roten Platz hatte die Polizei die Absperrungen an der Brücke entfernt, so dass auch Fahrzeuge sie passieren konnten, und schleuste alle Abgeordneten und Angestellten auf diesem Weg auf das Gelände oder wieder herunter. Der Südländer wollte zuerst zu einer der Taxen gehen, die dort bereitstanden, doch Maxim sage ihm auf seine übliche fröhlich-lautstarke Art: „Ich kümmere mich um meine Gäste. Kommen sie, ich fahre sie.“ Bei diesen Worten deutete er auf seinen Dienstwagen, bei dem sich einer seiner Leibwächter gerade vor das Steuer gesetzt hatte. Der Südländer lächelte und wandte sich vom Taxi ab. Als er auf den anderen Wagen zuging, lösten sich drei der Taxifahrer von ihren Fahrzeugen und machten vorsichtige Schritte hinter ihm her.
Sie wirkten wie ganz gewöhnliche Männer, die sich dieser Tage zu hunderttausenden in den ärmeren Großwohnsiedlungen in den Randbezirken der Stadt drängelten, Zuwanderer aus den Kriegsgebeutelten Ländern in Zentralasien jenseits der europäischen Grenze, die vor dem Elend ihrer Heimat flohen. Für Moskau waren diese Leute Segen und Fluch zugleich, waren sie doch billige Arbeitskräfte, die die Stadt am Laufen hielten, verwandelten aber gleichzeitig die Vorstädte in kaum kontrollierbare soziale Brennpunkte, die den Frieden der Freidenkermetropole gefährdeten. Solche Männer und Frauen pendelten jeden Tag zu tausenden zum Arbeiten in die Innenstadt und wurden nicht mehr als ungewöhnlich wahrgenommen. Doch das Verhalten, das diese hier an den Tag legten, war nicht normal. Maxim und sein Freund bemerkten es nicht einmal, doch die Leibwächter reagierten sofort alarmiert. Einer von ihnen stellte sich den Männern in den Weg und fragte sie, was sie vorhätten.
Ihr Verhalten schien in erster Linie dazu gedient zu haben die Reaktionen der Wächter abzuschätzen. Plötzlich war einer von ihnen mit einem Satz bei dem Wächter und rammte ihm ein Messer, das er verborgen getragen hatte, in den Leib. Der Stich war präzise gesetzt und binnen Sekundenbruchteilen tödlich. Die anderen beiden zogen Pistolen und gingen auf den Wagen los. Einer erschoss den zweiten Leibwächter, der zweite bedrohte die beiden Insassen. Sie setzten sich zu ihnen in den Wagen. Einer drückte den Daumen des toten Leibwächters noch einmal auf den Fingerabdruckscanner, der den Zündschlüssel ersetzte und warf ihn dann aus dem Fahrzeug. Der zweite setzte sich auf den Beifahrersitz und der dritte auf die Rückbank. Er drückte Maxim dabei seine Waffe in die Seite. Der Blick des Südländers huschte nervös zwischen den Männern hin und her und man konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Ein Blick auf die Waffen verriet ihm, wie sie durch die Sicherheitsschleusen gekommen waren: Pistolen aus Karbonfasern, Messer und wahrscheinlich auch die Kugeln aus Keramik. Nichts davon tauchte auf Metalldetektoren auf und zumindest Kugeln aus Keramik wären aus eben diesem Grund nach europäischem Recht illegal. Er entdeckte bei einem der Männer, wie sich die Haut im Nacken ein wenig abzulösen schien und darunter ein anderer Teint zum Vorschein kam. Ihm wurde klar, dass diese Leute keine Kleinkriminellen aus den Vorstädten waren. Was immer auch hier los war, es konnte für ihn nur Schwierigkeiten bedeuten.
Die Entführer brauchten nur wenige Sekunden für ihren Coup. Doch trotzdem blieb er nicht unbemerkt. Pawel Klimow war zusammen mit zwei anderen Polizisten dabei gewesen einige Krawallmacher, die es irgendwie durch die Absperrungen geschafft und versucht hatten die geparkten Wagen der Abgeordneten in Brand zu stecken, durch den Kreml zu jagen, als sein Blick auf den Parkplatz fiel. Er beförderte den Kerl, den er sich gerade geschnappt hatte, mit einem wuchtigen Hieb bewusstlos aufs Pflaster und rannte los. Er erreichte den Parkplatz, als der Wagen sich gerade in Bewegung setzte und auf die Brücke auffuhr. Mit einem schnellen Griff zum Funkgerät gab er den Polizisten, die die Brücke bewachten den Befehl niemanden durchzulassen. Doch als er selbst hinter dem Wagen her lief, sah er, wie der Fahrer merklich Gas gab, die Schranke, die ihm die Auffahrt auf die Mochowaja versperren sollte, einfach durchbrach und die Polizisten hastig zur Seite sprangen. Wortlos verfluchte er den, der entschieden hatte, dass die Dienstwagen der Abgeordneten gepanzert sein sollten und rannte die Brücke hinunter. Am unteren Ende angekommen zückte er seine Zweitwaffe, die anstelle einer scharfen Kugel einen haftenden Peilsender im Lauf hatte, und schoss. Er verfehlte die Limousine nur knapp, während sie die Straße hinunter fuhr.
Er wandte sich den anderen Polizisten zu, griff sich den ranghöchsten Anwesenden und sagte ihm: „Die Männer in diesem Wagen haben einen Abgeordneten und einen Zivilisten entführt. Wir brauchen sofort Unterstützung. Und schneiden sie denen die Fluchtwege ab.“ Der andere Beamte schien für ein paar Sekunden zu überlegen, dann sagte er: „Der schnellste Weg aus der Stadt… Lenin-Prospekt.“ „Machen sie auch alle anderen Ausfallstraßen dicht.“ Er drehte sich wieder um und rannte los, während der andere begann die Einsatzzentrale anzufunken. Die Entführer waren nach Süden gefahren, was angesichts der Straßenschlachten, die im Moment in Kitai-Gorod tobten, wohl auch die einzig logische Möglichkeit war. Knapp sechs Kilometer die Moskwa entlang, dann über den Fluss und auf den Prospekt, das war der schnellste Fluchtweg. Er war einige hundert Meter weit gekommen, als ein anderer Polizist auf einem Motorrad neben ihm seine Fahrt verlangsamte und ihm zuwinkte aufzuspringen. Mit einem grimmigen, doch zufriedenen Grinsen stieg er mit auf und der Mann beschleunigte wieder.
Während sie die Uferstraßen entlangjagten, funkte Pavel die Einsatzleitung an und sagte: „Hauptquartier, wir brauchen die Position des Dienstwagens eines Abgeordneten der Duma.“ „Welcher?“ „Keine Ahnung. Ich hab ihn jedenfalls nicht gewählt. Kleiner und dicker Kerl mit Halbglatze. War hier mal irgendein hohes Tier für die EU.“ Die Frau am anderen Ende der Funkverbindung dachte kurz nach, dann fragte sie: „Maxim Anochin?“ „Möglich. Das Kennzeichen seines Wagens endete mit 796-RF.“ Er hörte kurz das Tippen von Fingern auf einer Tastatur, dann sagte die Frau: „Anochin. Sein Wagen hat keinen Peilsender, aber ich werde die Verkehrsüberwachung sein Nummernschild suchen lassen. Wir brauchen einen Moment.“ Fast drei Minuten später – sie überquerten, mehr auf Verdacht als Gewissheit hin, gerade die Moskwa auf Höhe des Gorki-Parks – meldete die Verkehrskontrolle sich bei ihnen. „Pavel Valeriowitsch, das gesuchte Fahrzeug bewegt sich im Moment den Lenin-Prospekt entlang nach Süden. Mehrere Einheiten sind unterwegs, um auf ihrem Weg Straßensperren zu errichten.“ Pavel verzog das Gesicht. Straßensperren auf einer der Hauptverkehrsadern der Stadt würden zu einem heillosen Chaos führen. Aber trotz allem war es der naheliegendste Weg. „Was haben wir an fliegenden Kräften im Einsatz?“ „Zwei Vögel mit Einsatzkommandos und acht Überwachungsflieger sind in der Luft.“ „Dann brauche ich diese Transporter sofort am Einsatzort. Wo sitzt ihre erste Straßensperre?“ „Höhe Panferova.“ „Dann werden sie vorher auf den Lomonosow-Prospekt ausweichen. Sie müssen die Sperren ausweiten. Und ich brauche einen ihrer Flieger in Richtung Osten.“
Pavel befahl seinen Fahrer eine Abkürzung zu suchen, woraufhin dieser die Hauptstraßen nach Süden hin verließ und mit halsbrecherischem Tempo durch die deutlich engeren Straßen und Gassen des Universitätsviertels fuhr. Ohne größere Schwierigkeiten setzte er sich über Hindernisse, wie störende Mauern oder geparkte Fahrzeuge hinweg, lenkte sie einmal durch die Tunnel einer Metrostation und brachte sie bis zum Nakhimowski, dem Fortsatz des Lomonosow-Prospekts unweit der Universität. Auf der großen Straße staute sich der Verkehr in Folge der Sperre, die einige Polizisten gut zwei Kilometer weiter aufgebaut hatten, indem sie schlicht ihre Fahrzeuge quer über die Straße gestellt hatten. Die Straße war hier in beide Richtungen mehrere Spuren breit, so dass sie vom Motorrad aus nicht alles überblicken konnten. Pavel sprang also ab und lief in einer anderen vom stehenden Verkehr gebildeten Gasse weiter. Nach fast einem Kilometer sah er den Wagen und erkannte, wie die Insassen gerade ausstiegen. Er rief sofort alle Kräfte in der Nähe zu sich, zog seine Waffe und lief auf die Gruppe zu. Je einer der Entführer führte eines der Opfer vor sich her, während der dritte die Umgebung mit Blicken absuchte. Er erkannte Pavel, als dieser auf gut zwanzig Meter heran war. Der Polizist riss seine Waffe hoch und brüllte die Anweisung stehen zu bleiben, woran sich sein Gegenüber aber nicht eine Sekunde lang hielt. Statt dessen sprang er über die Abgrenzung in der Fahrbahnmitte und flüchtete zwischen den Fahrzeugen entlang.
Pavel setzte den Männern nach. Er konnte zumindest die Gruppe mit den Entführten gut sehen, da der Abgeordnete ihr Tempo stark zu reduzieren schien. Der dritte Gangster hingegen schien verschwunden. Pavel wurde langsamer, sicherte immer wieder in alle Richtungen ab, befürchtete er doch der Kerl könnte versuchen ihm zwischen den Wagen aufzulauern. Eine Sorge, die absolut berechtigt war. Im allerletzten Moment hörte er Schritte hinter sich, fuhr herum und entdeckte seinen Gegner, der sich unter einem höher gelegten Wagen versteckt hatte, an dem er gerade vorbeigegangen war. Sie richteten beide ihre Waffen aufeinander, doch der Kriminelle war schneller. Er jagte Pavel zwei Kugeln in den Leib, die seinen Körperpanzer, der gegen alle zivilen Waffen schützen sollte, glatt durchschlugen. Beide Kugeln saßen dicht am Herzen, töteten ihn jedoch nicht sofort. Er fiel zu Boden und sein Kontrahent lief, ihn ausgeschaltet wähnend, hinter seinen Kumpanen her. Während Pavel im Schneematsch der Straße lag und ausblutete, war sein Blick zuerst, vor allem in Ermangelung anderer Optionen, verursachte jede Bewegung doch höllische Schmerzen, starr gen Himmel gerichtet. Seine Großmutter, eine fromme orthodoxe Christin, hatte ihm zum Glauben erzogen, so dass er für einen Moment erwartete ein helles Licht oder einen Engel, der seine Seele in den Himmel geleitete, zu sehen, doch da war nichts dergleichen. Nur eine Stimme, die mit jedem immer schwächeren Herzschlag lauter wurde.
Eine Stimme, die ihn anschnauzte gefälligst aufzustehen und seine Pflicht zu tun. „Erspar der Welt so einen billigen Abgang“, brüllte sie. „Wer hat dir erlaubt zu sterben? Steh auf und mach weiter!“ Unschlüssig dachte er für einen Moment darüber nach, ob ihm hier nur eine Erinnerung an die Ausbilder auf der Polizeischule durch den Kopf geisterte, er einen Engel des Herrn hörte, oder sein von Adrenalin vernebeltes Unterbewusstsein ihn einfach nur am Leben halten wollte. Nach einigen Augenblicken entschied er, dass es egal war. Mit einem schmerzerfüllten Knurren und unter Aufbietung aller Kräfte, die ihm geblieben waren, stand er aus der Lache seines eigenen Blutes auf, die sich um ihn herum gebildet hatte, und suchte nach seinen Zielen. Er sah sie, wie sie gerade gut hundertfünfzig Meter weiter in einer Nebenstraße verschwinden wollten. Er legte seine Pistole auf sie an. Für einen Moment fürchtete er den Schuss mit seinen stark zitternden Händen zu verreißen, drückte dann aber trotzdem ab. Er erwischte den Kerl, der ihn angeschossen hatte, direkt am Hinterkopf und nagelte die anderen fest, indem er sein Magazin in schneller Folge leer schoss. In einer kurzen, aber heftigen Schießerei kassierte er noch einen weiteren Treffer an der Schulter, zerschoss selbst zwei Schaufenster und jagte einem glücklosen Moskauer zwei Kugeln in den Motor seines Wagens, schaffte es aber die Kerle an der Flucht zu hindern, bis er das erlösende Geräusch hörte: Die Triebwerke des Transportskimmers. Er sah den Flieger noch über den Entführern in Position gehen und sechs Beamte eines Spezialkommandos in voller Kampfmontur sich abseilen, dann brach er zusammen und hauchte seinen letzten Atem aus.
Drei Tage später, Moskau:
In einiger Entfernung konnte Elias Falkner die Ausläufer Moskaus sehen, das selbst in finsterster Nacht nicht schlief. Vielmehr erhellten die Lichter der Stadt die Hügel, auf denen sie erbaut waren, in einer schillernden Aura, als wollten sie jeden Reisenden daran erinnern, das die Agglomeration von Millionen auf solch engem Raum zu den größten Wundern zählte, die die Menschheit jemals vollbracht hatte, größer noch als die Pyramiden im Wüstensand Ägyptens oder gotische Kathedralen, wie Karl Marx einmal geschrieben hatte. Er rieb sich die Augen im Versuch die Müdigkeit abzuschütteln, die das monotone Surren des Elektromotors ihres Fenneks noch zu einem Schlaflied werden ließ. Als es nichts half, griff er zur Thermoskanne, die er unter seinen Sitz geklemmt hatte, und schenkte sich etwas von dem starken türkischen Kaffee darin in den Deckel ein. Während er trank, fragte Nikolai, der den Wagen auf der letzten Etappe steuerte, ihn: „Wer ist dieser Kerl, den wir abholen sollen?“ „Ich habe keine Ahnung. Laut Akte heißt er Rafael Alvear und arbeitet für ein Projekt, das bald auf Mura anlaufen soll.“
„Was macht so jemand in Moskau?“ „Er war bei der Abstimmung der Duma über das Assoziierungsabkommen dabei. Er kannte einen der Abgeordneten aus Brüssel und wollte wahrscheinlich ein wenig die Werbetrommel für uns rühren.“ „Und wozu brauchen die uns?“ „Der Kerl hat sich entführen lassen, wurde gerettet und der MND bittet jetzt um Amtshilfe dabei ihn in Sicherheit zu bringen.“ „Warum dürfen wir dann über zwölf Stunden lang die wundervolle Landschaft rechts und links der Autobahnen dieses wunderschönen Landes bewundern? Wenn die Sache so brisant ist, hätten wir einen Skimmer nehmen sollen.“ Falkner schmunzelte und nahm noch einen Schluck Kaffee. Dann meinte er: „Ich kenne die Gründe des Generals nicht, aber ich vermute, dass jede Stunde, die wir auf der Straße sind, ihm etwas mehr Zeit gibt etwas herauszufinden. Die Umstände des ganzen scheinen recht unklar gewesen zu sein, so dass er Zeit schinden will. Außerdem soll es mir recht sein. Immerhin bringt es mich aus dieser elendigen Zelle heraus.“
Nikolai lachte und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Das Team war nicht weniger froh Falkner wieder auf freiem Fuß zu sehen, als er es selbst gewesen war. Nach ihrem kleinen… Rencontre mit den Aschen war Falkner bei ihrer Rückkehr auf die Erde inhaftiert worden, warf man ihm doch vor durch sein Verhalten die Erde dem Risiko eines neuen großen Krieges ausgesetzt zu haben. Auch Informationen aus den Archiven von Mura, die bestätigt hatten, dass er eine wesentlich größere Gefahr abgewandt hatte, hatten ihm nicht die Freiheit gebracht. Vielmehr war er danach festgehalten worden, da er alles Vertrauen verloren hatte, dass er noch bei der Führungsspitze des Eurokorps besessen hatte. Die Vorstellung ein Offizier in seiner Position könne von dem Beeinflusst werden, was ein General des Feindes ihm in den Kopf gesetzt hatte, war Grund genug ihn festzuhalten. Maybourne hatte ihn zwar protegiert, jedoch nicht mehr erreichen können, als dass er nicht gleich aus dem Dienst entlassen wurde. Die versuchte Entführung Alvears – Europol vertrat die Auffassung, dass der Abgeordnete Anochin das Ziel gewesen war – hatte Maybourne schließlich einen Vorwand gegeben ihn zurück in den Dienst zu holen. Nach eigener Aussage hatte er einen Offizier gebraucht, dem er bedingungslos vertrauen konnte und der in keiner Weise mit Terra Nostra oder der russischen Mafia, den beiden Gruppen, die die Hauptverdächtigen waren, in Verbindung stand. Und Falkner hatte nicht vor ihn zu enttäuschen.
Kurz vor der Abfahrt, die sie auf die große Ringautobahn um die Stadt führen sollte, griff Falkner zum Funkgerät und nahm Kontakt zu Julius auf, der den zweiten Fennek an der Spitze der Kolonne lenkte. „Feldwebel von Sachleben, nehmen sie den Fuß vom Gas. Wir übernehmen die Spitze.“ Julius bestätigte kurz, wobei Falkner glaubte im Hintergrund etwas zu hören, was wie „Highway to hell“ aus beinahe bis zum Anschlag aufgedrehten Lautsprechern klang, während Arya und Noe laut mitsangen. Er schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf und signalisierte Nikolai Gas zu geben. Sie überholten den zweiten Wagen und bogen nur wenige Minuten später auf die Ringautobahn ein. Über eine der Einfallstraßen ging es weiter zum Lubjanka-Platz, wo die Europol-Direktion für Moskau und Zentralrussland ihren Sitz in eben jenem Gebäude genommen hatte, das schon das Archiv des KGB und später den FSB beherbergt hatte. Sie stellten ihre Wagen vor dem Eingang ab und Nikolai und Falkner gingen zusammen mit Noé mit schnellen Schritten die Treppenstufen hinauf.
Im Inneren des Gebäudes:
Der Beamte, der an der Sicherheitsschleuse Nachtdienst schob, sah von seinem Kreuzworträtsel auf, als er die Personengruppe bemerkte, die vor den Schalter getreten war. Ein Mann aus der Gruppe legte ihm einige zusammengetackerte Zettel hin und sagte: „Major Falkner. Wir sind hier, um Rafael Alvear abzuholen.“ Der Beamte beugte sich vor und nahm sich die Dokumente. Er überflog sie und hielt sie unter den Sicherheitsscanner, um ihre Echtheit zu überprüfen. Alle Staatsdokumente der Union waren ab einer bestimmten Sicherheitsstufe in einem Mikrodruckverfahren mit Sicherheitsmarkierungen versehen, die gemeinhin als Fälschungssicher galten. Die Papiere wurden verifiziert. Er ließ sich noch einmal die Ausweise zeigen, dann gab er die Schleuse frei. Die Gruppe folgte seinen Anweisungen in einen Raum im ersten Stock, wo sie Alvear zusammen mit drei anderen Männern und einer Frau vorfanden. Die Frau drehte sich mit einem Schmunzeln zu einem der Männer und sagte mit finnischem Akzent: „Dann bin ich ihren Kandidaten hier ja endlich los. Ich habe ihnen schon gesagt, dass die Gespenster sehen, Alpatow. Der Abgeordnete war das Ziel.“ Der so angesprochene musterte die vier Männer, die gerade den Raum betreten hatten, für einen Moment und nickte dann, wobei ihm ein undefinierbares Lächeln im Gesicht stand. „Sie müssen Major Falkner sein“, sagte er zu ihrem Anführer. „Dann nehmen sie ihn mit. Wir lassen einen zusätzlichen Wagen vorfahren. Und richten sie General Maybourne meinen Dank für die prompte Hilfe aus.“ Nachdem die Gruppe mit dem Spanier verschwunden war, sah er zu seiner Kollegin vom Europol und meinte: „Zur Hölle, wer immer auch die sind, sie sind gut. Sagen sie ihren Scharfschützen bescheid, aber passen sie auf, dass Alvear nichts passiert.“
Falkner und seine beiden Begleiter traten gerade in die Eingangshalle des Gebäudes, als ihnen eine Gruppe von Männern in Uniformen des Korps entgegenkam. Für einen Sekundenbruchteil reagierte er leicht verwirrt, hatte ihm doch niemand etwas von einer zweiten Einheit hier gesagt, dann bemerkte er den Ausweis an der Brusttasche des Anführers, auf dem ein verräterischer Name stand: Elias Falkner. Binnen eines Lidschlages hatte er seine Pistole gezogen und brüllte: „Hände auf den Kopf und runter auf den Boden!“ Die Männer machten keine Anstalten seiner Aufforderung nachzukommen. Stattdessen stürzte der vermeintliche Major Falkner sich wortlos auf ihn und seine Begleiter versuchten ihrerseits Waffen zu ziehen. Falkner machte einen Schritt zur Seite, der seinen Angreifer ins Leere laufen lassen sollte, doch der fiel nicht darauf herein. Er reagierte sofort, gab seiner Bewegung eine neue Richtung und setzte Falkner nach. In seiner Hand tauchte ein Teleskopschlagstock auf, dessen vorderes Ende aus flexiblem Federstahl mit einer schweren Metallkugel beschwert war. Er schlug damit nach Falkner und trat seine Unterarme, die er schützend vor den Kopf hochgerissen hatte.
Die Wucht der Schläge riss ihm tiefe Furchen ins Fleisch, die aber kaum bluteten. Nicht umsonst hatte er viel intensives Training darin investiert seinen Körper unempfindlicher gegen Verletzungen zu machen. Er wich vor seinem Gegner zurück, testete mit ein paar schnellen Gegenschlägen seine Verteidigung aus und verlegte sich ansonsten auf das Parieren. Dann entdeckte er eine Lücke. Mit einer schnellen Bewegung schlug er den Schlagstock beiseite und rammte seinem Gegner fast gleichzeitig die zweite Faust gegen den Schädel. Dann hämmerte er ihn mit wenigen schnellen Schlägen zu Boden. In der Zwischenzeit hatten Noé und Nikolai die anderen drei Hochstapler über den Haufen geschossen. Nur der Mann, den sie hatten mitnehmen wollen, hockte zusammengekauert und vor Schreck wimmernd am Boden. „Rafael Alvear?“, fragte Falkner ihn. Er nickte und Noé half ihm auf. Dann kamen auf einmal mehrere Agenten unter der Führung von Alpatow, jeder gut bewaffnet, in die Halle gerannt. Sie hielten inne, als sie sahen, dass die Situation schon geklärt war, und Alpatow kam mit einem Grinsen auf Falkner zu. „Schön sie wieder zu sehen, Major. Ich hoffe man hat sie nicht zu gut ausgebildet.“
Leicht ungläubig fragte Falkner: „Was?“ „Im Töten, meine ich. Es wäre sehr unangenehm, wenn wir keinen dieser Kerle mehr befragen könnten.“ „Keine Sorge. Der dort dürfte noch Leben. So heftig habe ich nicht zugeschlagen.“ „Sehr schön.“ Der MND-Agent ging neben dem ausgeknockten Mann in die Hocke und fingerte seine ‚Befehlsdokumente’ aus der Tasche. „Wenigstens hat das ganze uns eines verraten“, meinte er. „Und was?“ „Dass Terra Nostra nichts damit zu tun hat. Das hier ist mehrere Nummern zu groß für Andronikaschwilis Pleitetruppe.“ Er hielt das Dokument hin und erklärte, was zumindest den Beamten von Europol schon klar war: „Diese Papiere wurden von unseren Scannern als echt eingestuft. So was kriegt man nicht mit einem Kopierer oder Photoshop hin. Um unsere Mikrodruckverfahren zu fälschen muss man spezielle Maschinen im Wert mehrerer Millionen Euro entweder in die Finger bekommen oder nachbauen. Und ich kann nicht sagen, was davon schwerer ist. Außerdem haben diese Typen irgendwie erfahren, dass gerade sie unseren Mann abholen sollten, was so ganz nebenbei beweist, dass sie zumindest unsere Kommunikation infiltriert oder Agenten in unseren Reihen haben. Terra Nostra würde so etwas niemals hinbekommen.“ „Wer sind sie dann?“ Alpatow zuckte mit den Schultern. „Genau das müssen wir noch herausfinden. Nehmen sie Alvear mit und bringen sie ihn zu Maybourne. Er erwartet sie auf dem Flottenstützpunkt bei Nishnij Nowgorod. Wir eskortieren sie aus Moskau raus. Wenn sie schlau sind, bleiben sie danach die ganze Zeit in Bewegung.“
Der Stützpunkt, von dem Alpatow gesprochen hatte, lag fast hundert Kilometer abseits der äußeren Ausläufer der Stadt in einem Waldgebiet, in dem ansonsten nur vereinzelte Bauerndörfer zu finden waren, von denen viele kaum noch Einwohner hatten. Das einzig andere Sehenswerte war ein altes Kloster, dessen Mönche aber die Abgeschiedenheit schätzten, so dass die Basis tatsächlich isoliert lag. Als hätte das Land graue Geschwüre geschlagen lagen die Gebäude der massiv befestigten Basis über die Waldlandschaft verteilt, die von Schnee bedeckt dalag, wie in einem Wintermärchen. Dabei war es nicht einmal das Erscheinungsbild der Gebäude, das den Eindruck einer Krankheit erweckten, sondern die kranken und verkrüppelten Bäume, die noch Jahrzehnte später unter den Nachwirkungen der Kriege gegen Systemlords und Ori litten. Es wurde gerne totgeschwiegen, doch die Triebwerke der frühen Kampfraumschiffe hatten giftige Strahlung und Rückstände abgesondert, die den Wald töteten. Die Amerikaner hatten es auf diese Weise geschafft fast zweihundert Quadratkilometer Waldland um ihren größten Kriegsraumhafen bei Anchorage herum zu entnadeln. Bei moderneren Schiffen war dieses Problem (angeblich) gelöst worden und insbesondere für zivile Schiffe galten hohe gesetzliche Standards, was die Verträglichkeit anging, aber das Land um die größeren Stützpunkte herum hatte sich immer noch nicht völlig erholt.
Falkner und seine Leute trafen Maybourne in einem großen Hangar, den er von handverlesenen Männern aus dem STK hatte abriegeln lassen. Sie fuhren von den verschneiten und in der Nacht nur spärlich ausgeleuchteten Landebahnen direkt in die Halle hinein, wo der General an einem Feldtisch auf sie wartete. Zuerst musste Falkner blinzeln, um sich an das grelle Licht der Scheinwerfer in den Gebäude zu gewöhnen, dann trat er an den Tisch heran und salutierte mit seinen Leuten vor Maybourne. Dieser erwiderte den Gruß und sagte: „Ich bin froh zu sehen dass sie es geschafft haben, Major. Man hat mir schon von ihrem Auftritt in Moskau erzählt. Sie scheinen einigen Eindruck hinterlassen zu haben und wir haben jetzt jemanden, den wir ausquetschen können. Ich liebe es, wenn ein Plan so gut funktioniert.“ „Ein Plan, Herr General?“ Maybourne lachte und antwortete: „Was denken sie warum ich sie den ganzen Weg auf der Straße habe zurücklegen lassen? Wir wussten rein gar nichts über den Feind, also wollte ich ihm etwas Zeit geben zu reagieren und habe ihm etwas angeboten, das er für eine Möglichkeit halten musste an sein Ziel zu kommen.“ „Das heißt…“, murmelte Julius. „Ja, heißt es, Feldwebel. Und bevor wir etwas sagen: Wir waren gut abgesichert, auch wenn sie nicht etwas früher angekommen wären, als erwartet. Ich habe nicht über Jahre für diverse amerikanische Präsidenten die Schmutzarbeit erledigt, ohne dabei etwas zu lernen.“
Falkner nickte. „Wie sieht ihr weiterer Plan aus, General?“ Maybourne seufzte. „Tja, hier wird die Sache schwierig. Tatsache ist nämlich, dass ich keinen habe. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass der Arm unserer Gegenspieler so weit reicht, wie sie es in Moskau demonstriert haben. Das wirft alle bisherigen Planungen über den Haufen. Ich kann im Moment nur wenigen Leuten vertrauen. Das macht uns verletzlicher, als ich es mir wünschen würde.“ Er rollte eine Karte auf dem Tisch aus, tippte mit seiner Behandschuhten Hand auf Paris und sagte: „Der ursprüngliche Plan sah vor Señor Alvear ins HQ des MND nach Paris zu bringen. Aber mein Instinkt sträubt sich mittlerweile ziemlich stark dagegen. Nur habe ich keine wirkliche Alternative im Angebot.“ Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Dann fragte Nikolai: „Falls die Frage erlaubt ist: Was könnte eine Gruppe mit solcher Macht von ihnen wollen, Señor Alvear?“ Der Spanier sah einmal zu Maybourne. Als der zustimmend nickte, bemühte er sich zu erklären: „Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich kann mir bestenfalls vorstellen, dass es mit meiner Arbeit zusammenhängt. Ich gehöre zu den Wissenschaftsteams, die die Archive auf Mura studieren sollen. Seit dem Verlust von Atlantis haben wir nicht einmal mehr annähernd einen solchen Wissensspeicher gefunden. Aber wir haben noch nicht einmal angefangen. Die Teams werden erst in einem Monat nach Mura gebracht.“
„Sie sehen“, schnitt Maybourne ihm das Wort ab, „dass die Sache ernst ist. Wir können für begrenzte Zeit auf diesem Stützpunkt die Stellung halten, aber irgendwann ist das auch keine Lösung mehr. Ich lasse im Moment mögliche Rückzugsorte auf unseren Toraußenposten überprüfen. Wenn wir unseren Schutzbefohlenen lange genug dem Zugriff unserer Gegner, wer immer sie auch sein mögen, entziehen, geben sie im Zweifel auf. Bis dahin…“ „Herr General“, erhob Noé das Wort, „wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?“ „Raus damit.“ „Triton, Herr General. Es gibt kaum einen besseren Ort zum Abtauchen, als die Auffanglager.“ Maybourne dachte für einen Moment nach. Dann fragte er: „Sie kommen von dort, nicht wahr?“ Sie nickte. „Sehen sie eine Chance jemanden dort zu verstecken?“ „Niemand hat wirklich einen Überblick darüber, was in den Slums passiert. Ich könnte außerdem mit ein paar alten Bekannten sprechen…“ „Gut. Die Idee gefällt mir. Bereiten sie alles vor. Ich organisiere ihnen unauffällig ein Schiff. Sie fliegen in zwölf Stunden. Weggetreten.“ Die Gruppe zerstreute sich. Nur Falkner blieb noch einen Moment lang stehen. „General, das gefällt mir nicht. Es wäre in so einer Schlangengrube schon schwer genug unsere eigene Sicherheit zu garantieren. Aber wenn wir noch auf Alvear aufpassen müssen, sehe ich schwarz.“ „Dann hören sie damit auf. Die Idee ist großartig. Wer immer auch gegen uns spielt, wird mit so einem Zug nicht rechnen. Im Moment ist er im Vorteil. Er hat Macht, Einfluss und genug Leute, dass der Verlust eines Teams nicht schmerzt. Aber so kann ich das Spielfeld komplett leer räumen und selbst die Regeln bestimmen. Ich habe da einen Plan für Triton. Hören sie zu…“