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Reziwelten

Einundzwanzig

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„Geh nicht hinaus, sonst holen dich noch die Svartalfar!“ Svens Stimme klang drängend. „Du weißt, heute ist der Tag, an dem die Sonne weder auf- noch untergeht! Die Götter stellen uns wieder einmal auf die Probe … “

Ylva seufzte und zog den Pelzmantel enger um sich. So mutig und tapfer sich ihr kleiner Bruder auch gegenüber den anderen Jungen des Dorfes gab so sehr fürchtete er die Dunkelheit, die Schatten und die Bedrohungen, die in ihnen lauerte. Gut, das Högni nicht hier war, denn er hätte den Kleinen sicherlich barsch zurecht gewiesen und deutlich gemacht, dass ein wahrer Krieger nur den Zorn der Götter zu fürchten hatte.

Aber sie wusste, was sie erwarten würde, wenn sie vor die Tür trat – ein schwaches Dämmerlicht, das vielleicht gerade einmal von den Nordlichtern und Sternen erhellt wurde. Und ein Ziel, von dem die Glück und Wohlstand der anderen Dorfbewohner abhängen würde. „Du weißt, dass ich es tun muss. In diesem Jahr bin ich die auserwählte Jungfrau, die auszieht, um das Feuer zwischen den Steinen zu entzünden. Hab keine Furcht, Freyja und Frigg werden über mich wachen“, sagte sie deshalb fest und straffte ihren Rücken.

Kurz überprüfte sie, ob sie alles bei sich hatte, was sie benötigte, dann öffnete sie die Tür und trat nach draußen. Ein stürmischer Wind schlug ihr entgegen. Eiskristalle brannten sich wie kleine Stiche in ihre Haut, während sie sich zügig von dem schützenden Haus entfernte, dessen Tür ihr Bruder schnell wieder verschloss, als rechne er nicht damit, dass sie wiederkehren würde.

Das lag durchaus im Bereich des Möglichen. Solveig und Ingvild, die letzten beiden Mädchen waren im Schnee erfroren oder im Eis des Fjords eingebrochen. Aber davon wollte sie sich nicht einschüchtern lassen … genau so wenig wie von der Tatsache, dass alle Mädchen, die überlebt hatten, verändert heim gekommen waren. Selbst ihre Mutter Runa hatte niemals von den Ereignissen in der Wintersonnwendnacht gesprochen.

„Du wirst mir nicht entkommen „, wisperte eine Stimme, schien um sie herum zu tanzen. Kurz formten die Kristalle das Antlitz eines stattlichen jungen Mannes, eines Helden, nachdem sich sicherlich so manche verzehrte. Doch Ylva lachte nur, als unsichtbare Hände an ihrem Mantel rupften und sie zu entblößen versuchten. Denn Leidenschaft fühlte sie keine, wusste sie doch, dass dies nur ein Trugbild war.

„Du kannst mich nicht täuschen, altes Väterchen. Als Braut bin ich viel zu jung für dich!“ rief sie dem Nordwind entgegen und zog stattdessen einen geschnitzten Holzkamm aus der Tasche. „Aber warte, ich kann dir den Bart und das Haupthaar kämmen, damit du dich wohler fühlst und nicht mehr so herum polterst … “ Das zeigte Wirkung, denn in dem Moment, in dem ihr der Kamm aus der Hand gerissen wurde, erstarb auch der Sturm.

Ylva stapfte weiter durch den Schnee, vorbei an den letzten Hütten des Dorfes, durch deren Läden schwach Licht glomm. Die anderen saßen jetzt an den Feuern wo sie es schön warm hatten, Väter und Mütter hielten ihre Kinder im Arm, während die Liebenden einander umschlangen. Und alle lauschten sie den Geschichten von Großvater Arne.

„Ich werde das auch wieder tun!“ schwor sich Ylva, als sie vor sich die Brücke sah und dahinter den Wald. Niemand war zu sehen, aber sie spürte, dass sie nicht alleine war. „Herr Troll, wo seid ihr!“ rief sie in die Dunkelheit. „Ich habe eine Gabe für euch!“

„Und was soll das sein?“ Die junge Frau zuckte zusammen, als plötzlich eine knarzige, kratzende Stimme hinter ihr erklang. „Frisches, junges Fleisch?“ Lautes Schnüffeln folgte den Worten. „Ah, so eine Mahlzeit war mir schon lange nicht mehr vergönnt.“

„Nein mein Herr, nicht mich selbst, aber ich bringe dir Friggs Gabe!“ Ylva handelte schnell. Sie holte unter ihrem Mantel rasch einen blühenden Zweig hervor und steckte ihn der zottigen, ungeschlachten Gestalt, die nach Fisch und Moder stank in die krallenbewehrten Hände. „Die dürfte euch nicht minder gefallen.“ Der Troll taumelte benommen zurück und keuchte, so als würde ihn der Duft allein schon vergiften.

Die junge Frau nutzte den Moment um weiter zu gehen und nickte erleichtert, als sie hinter sich ein Platschen hörte. Wenn Brückentrolle eines nicht mochten, dann waren es die Zeichen des blühenden Lebens und des Lichtes – deshalb verkrochen sie sich auch im Frühling und Sommer, kamen erst in der Zeit der sterbenden Blätter wieder hervor, um nach Beute zu jagen.

Aber nun kam die gefährlichste Etappe des Weges. Hier, zwischen den Bäumen und dem Gestrüpp wurde sie von tausend Augen betrachtet. Nun wurde es auch Ylva ein wenig mulmig? Gehörten die leuchtenden Augen zu einem Luchs, einem Wolf … oder weit schlimmerem? Berieten sich die dunklen Geister und verlorenen Seelen, wem sie nun gehören sollte.

Der Wald war voller Raunen und Wispern, Knacken und Knirschen. Da ein Blitzen in ihren Augenwinkeln, ein Huschen zwischen den Tannenzweigen … ein Irrlicht, das sie vom rechten Weg locken wollte.

Sie tastete nach der Spindel in ihrer Tasche, auf der sich immer noch unregelmäßig gesponnenes Garn befand, durchsetzt von dunklen Flecken. Das stammte von ihrem ersten heimlichen Versuch, es ihrer Mutter gleichzutun. Damals hatte sie ihren ganzen Eifer hineingesteckt und sich mehr als einmal gestochen. Aber auch kindliche Freude und Unschuld, die Liebe eines Kindes zu ihrer Mutter und …

Es war eine der letzten Erinnerungen an die schöne und kluge Frau, die sie geboren hatte, und die vor drei Jahren als Schildmaid vor den Toren des Dorfes gefallen war, als Halvar der Verräter sich bei ihnen hatte festsetzen wollen.

Ylva seufzte. Ihre Mutter hatte sie damals nicht ob der zerstochenen Finger gescholten, sondern nur gelächelt und diese Erinnerung unberührt verwahrt und ihr einen guten Rat mitgegeben. „Nehmt das. Erquickt euch daran und lasst mich ziehen … “ sagte sie leise und zupfte unregelmäßige Fäden von der Spindel, ließ sie in den Schnee fallen.

Während sie weiter ging, wagte sie keinen Blick hinter sich, obwohl sie ein Rascheln und Scharren, Balgen und keifen hörte. Denn das hätte sicherlich ihren Tod bedeutet – hassten es die Svartalfar doch, beobachtet und gesehen zu werden. Aber sie gierten auf der anderen Seite nach den Erinnerungen und Gefühlen der Sterblichen, genau so wie die verlorenen Seelen.
Und die gab sie ihnen nun mit dem gesponnenen Garn.

Der Wald lichtete sich und gab endlich den Blick auf den Hügel frei, der von einem Kreis aus Steinen gekrönt wurde. Hier wurde der Thing abgehalten, hier brachten die Ältesten aber auch den Göttern Opfer. Ein zwischen ihnen entzündetes Feuer würde über den ganzen Fjord hinweg gesehen werden … und damit auch das Licht in die Welt der Menschen zurückrufen.

Das klang einfach, vor allem, weil die Ältesten eine Feuerschale mit glimmender Glut neben dem bereits aufgeschichteten Scheiterhaufen zurückgelassen hatten … aber Ylva spürte plötzlich, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief und das Herz schneller zu schlagen begann.

Unwillkürlich blieb sie auf halber Strecke stehen. „Und dann?“ fragte sie sich leise. „Welches Opfer werde ich erbringen müssen?“ Sie dachte an die blassen und verschlossenen Gesichter der Mädchen, die den Weg geschafft hatten und lebend zurückgekehrt waren. Während die anderen Dorfbewohner feierten … hatten sie sich weinend zurückgezogen … und waren noch vor dem Frühling mit zumeist älteren Männern vermählt worden.

„Ahnst du es nicht bereits?“ wisperte eine Stimme an ihrem Ohr. „Verrät dir dein Blut nicht bereits die Wahrheit?“ Eine blasse, durchsichtig schimmernde Hand schob eine Strähne aus ihrem Gesicht. „Meine kluge und tapfere Tochter …“
„Mutter?“ Ylva drehte den Kopf. Runa stand neben ihr, so wie sie sie zuletzt gesehen hatte, angetan mit einer Rüstung, einen Schild am Arm und ein Schwert an der Seite. „Aber ich dachte ...“
„Freyja hat mir die Gunst gewährt, mich in den Kreis der Walküren aufzunehmen … und die Erlaubnis gegeben, dir beizustehen …“
„Beizustehen, warum?“
„Um einem Brauch zu entgehen, der nicht dem Glück der Menschen oder der Ehre der Götter gilt, sondern allein der Lust der Männer!“, erwiderte Runa mit blitzenden Augen. „Der schon seit Generationen Freyja und Frigg beleidigt, weil zum einen das Licht von selbst wiederkehren wird … und das Geschick der Menschen bestimmt, wie sie über das Jahr kommen werden … nicht aber ein Brauch, der nur Schande bringt … “
Ylva schluckte, als sie verstand, was ihre Mutter ihr sagen wollte. „Oh, jetzt verstehe ich, warum Högni es so eilig hatte, weg zu kommen!“ Zorn flammte in ihr auf. „Deshalb hat er mich in den letzten Tagen mit seinen Blicken verfolgt und immer wieder auf eine Weise angefasst, die ganz und gar nicht brüderlich war.“
„Er, der nur behauptet, dein Halbbruder zu sein, und sechs weitere junge Männer warten im Schatten der Steine. Wenn das Feuer brennt, werden sie hervorkommen und ...“
„Sprich nicht weiter, Mutter!“ Ylva schüttelte den Kopf. „Ich bin gegen Ende des Erntemonats geboren und damit ein Kind dieser Nacht? Und nun fand es Högni passend, dass ich die Auserwählte bin.“
„So ist es. Zwar hat Högni der Graue, sein Vater dich als seine Tochter anerkannt, aber ich weiß nicht wirklich, wessen Samen in mir aufgegangen ist.“
„Das ist jetzt auch nicht wichtig, sondern nur eines … ich werde mir das nicht gefallen lassen!“ Ylva ballte die Hände zu Fäusten und sah ihre Mutter an. „Und kein anderes Mädchen soll mehr dieses Leid erfahren, auch wenn ich dafür einen hohen Preis bezahlen muss.“
„Die Göttinnen sind an deiner Seite.“ Ein Lächeln huschte über Runas geisterhaftes Antlitz, dann streckte sie die Hand aus. „Und sie werden dich mit offenen Armen aufnehme.“
Ylva nickte und streckte ihre Hände aus, um die Seele ihrer Mutter zu berühren. „Dann soll es so sein …“

* * *

Es heißt in den alten Legenden des Nordes, dass die Ältesten des Dorfes, als sie beim ersten Licht auszogen, um Ylva Runasdottir zu holen, die das Licht in die Wintersonnwendnacht zurückgeholt hatte, nur kurze Zeit später völlig aufgelöst zurückkehrten

Sie berichteten von sieben toten jungen Männern – Kriegern, die gerade ihre Erste Fahrt und damit die Blutweihe überlebt hatten - berichteten. Wie eine Opfergabe, seien sie rund um die erlöschende Glut aufgebahrt worden. Und obwohl sie keine offensichtlichen Wunden am Körper trugen, waren die erstarrten Gesichter von Furcht und Schrecken gezeichnet gewesen, so als habe sie allein schon das Entsetzten hinweggerafft.

„Es ist die gerechte Strafe der Götter!“, wagte nun erstmals eine der alten Frauen die Stimme im Kreis der Dorfbewohner zu erheben. „Zu lange habt ihr in den Augen Freyjas und Friggs gefrevelt. Aber erst ein Kind, dass aus einer dieser dunklen Nächte erwachsen ist, erst ein solches Mädchen konnte euch die Augen öffnen! Dies ist kein guter und edler Brauch … dies war und ist ein Frevel, der enden muss. Für immer.“
Niemand wagte es, seine Stimme zu erheben und ihr zu widersprechen. In den Gesichtern der Männer stand nämlich deutlich ihre Schuld geschrieben

Und so geschah es. Von diesem Tage an, trugen die Dorfbewohner gemeinsam Fackeln zum Steinkreis um dort das Feuer der Hoffnung zu entzünden und alle dunklen Geister zu vertreiben. Und wenn sie einander an den Händen hielten, hatten nicht wenige der jungen Mädchen eine Vision – zwei Frauen in wallenden Gewändern, angetan mit Brünne, Schwert und Schild.

Seither dieser Zeit galten die Mädchen des Dorfes als besonders tapfer, mutig und klug – wohl wissend, dass eine Frau mit dem Segen der Göttinnen jede Gefahr in der Dunkelheit überlisten und besiegen konnte, selbst in in der nie endenden Nacht des Mittwinters.
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