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Reziwelten

Zwanzig

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Johanna seufzte. Sie bedauerte es fast schon, die gastliche Herberge zu verlassen, die mit jedem Tag festlicher geschmückt wurde. Aber der Kutscher hatte den anderen Reisenden und ihr mitgeteilt, dass er gedachte, heute aufzubrechen, sobald es hell genug war.

Ihr Blick schweifte durch die von Kerzen erhellte Gaststube. Das warme Licht bedachte alles mit einem goldenen Schimmer und ließ den Raum wie verzaubert wirken, sei es nun die von Stechpalmen und Efeu umrankte Krippe, die mit Barbara und Lucien-Zweiglein geschmückten Tische und das Immergrün an Wänden und Fenstern. Täuschte sie sich … oder lag wirklich ein feiner Blütenduft in der Luft?

Auf dem Tresen standen zwei großeSchalen mit Äpfeln, Birnen und anderen Früchten, sogar Gemüse war darunter, auf die Tische hatte die Herbergsmutter kleine Körbchen mit Nüssen und Backwerk gestellt und darum goldfarben bemalte Tannenzapfen gelegt.

Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter. Johanna zuckte nicht hoch, sondern lehnte sich eher mit einem wohligen Lächeln zurück, denn sie wusste auch ohne hinzusehen, dass es Friedrich war. Dem Studenten und ihr blieben nur diese wenigen verstohlenen Momente der Nähe und Zärtlichkeit, denn noch packte Lisa die Sachen der jungen Freifrau zusammen – und der Magister pflegte ohnehin nur dann zu erscheinen, wenn es unbedingt nötig war.

„Das sind die Segensfrüchte. Schon in heidnischer Zeit glaubten die Menschen hier, dass wenn man zu Beginn des Sonnenjahres große Schalen mit Feld-, Wald- und Gartenfrüchten auf den Tisch stellte und freigiebig verschenkte, dass auch im nächsten Jahr Wohlstand und Glück in Haus und Hof einkehren würden“, erklärte der junge Student und nutzte die Gelegenheit, seinen Kopf an den ihren zu lehnen.

„Und es sieht wunderschön aus ...“, erwiderte Johanna und hob ihre Hand, um sie auf die Seine zu legen. Ihr Herz wurde schwer, als sie auf den Mistelzweig blickte.

„Johanna ...“ Friedrich küsste sie zart auf die Wange, als er ihre plötzliche Traurigkeit bemerkte. „Die Wintersonnenwende ist nah. Und damit kehrt auch das Licht der Hoffnung zurück, die Gewissheit, dass die Sonne wieder länger scheinen wird. Ich schwöre dir, ich werde einen Weg finden …“

„Wir werden einen Weg finden …“ entgegnete die junge Frau und holte tief Luft. „Die guten Leute haben uns gezeigt wie … allein durch ihren festen Glauben!“ Damit drehte sie sich um und sah ihm offen ins Gesicht, fühlte sich stark und mutig an diesem verzauberten, zeitlosen Ort, an dem so vieles möglich sein konnte und an dem die Liebe zu den Menschen und dem Leben regierte.

Spontan stellte sie sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor. Diesmal war es kein Kuss aus einem flüchtigen, vielleicht auch leidenschaftlichen, Gefühl heraus, sondern eine bewusste Geste – ein Versprechen, das sie mit ihm teilte …
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