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Reziwelten

Vierzehn

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„Hier, nimm das, Heinrich!“ Kurt reichte seinem Kameraden eine Tasse mit heißem Kaffee. „Wie sieht es da draußen aus?“ Er wagte einen Blick über den Schützengraben hinaus.
„Alles ruhig, Leutnant! Ich glaube, die Jungs auf der anderen Seite wissen auch, was heute für ein Tag ist“, erwiderte der Feldwebel. „Es ist eine Schande, hier zu hocken und nicht mit der Familie feiern zu können.“

„Da hast du recht!“, erwiderte der Offizier und seufzte seine. Seine Hand berührte flüchtig die Brusttasche, aus der ein Stück Papier ragte, vermutlich ein Brief seiner jungen Frau, die er erst zwei Monate vor Kriegsbeginn geheiratet hatte.

Der um einiges ältere Feldwebel nickte. Zwar hatten sie alle ein Paket mit Geschenken ihrer Liebsten und ihrer Heimatgemeinden erhalten – aber das konnte nicht darüber hinweg trösten, dass sie hier saßen, den Tod vor Augen. „Ich wünschte, wir könnten wenigstens die Jungs begraben. Sie liegen da, als Fraß für die Krähen, und wir müssen das mit ansehen. Ich wünschte der Herrgott würde ein paar Leuten eine Eingebung senden.“

„Wie meinst du das?“

„Das ist der Tag der Geburt unseres Herrn und heißt es da nicht schon in der Bibel, dass an diesem Tage Friede auf Erden sein sollte? Ich meine … die Engländer da drüben sind auch Christenmenschen – und warum sollten die anders denken als wir?“

Der Leutnant rieb sich sein Kinn. Er wirkte plötzlich sehr nachdenklich und schwieg eine Weile. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er sah den Älteren mit einem Blitzen in den Augen an. „Heinrich, sprich mit den Jungs. Holt die Tannenzweige und ein paar Kerzen aus der Hütte, ja vielleicht auch den kleinen Baum aus der Ecke. Es ist eine Schande, ihn im Schlamm stehen zu lassen...“

„Jawohl, Leutnant!“ Es bedurfte keiner weiteren Worte zwischen ihnen. Der Feldwebel verstand auch so und leerte noch schnell die Kaffeetasse, ehe er durch den Graben eilte, um den Befehl, der mehr eine Bitte war, auszuführen.

Leutnant Kurt Zehmisch aber wagte einen Blick über den Rand des Schützengrabens und zog ein weißes Tuch aus der Tasche.

* * *

„Was will der Krautfresser? Waffenfrieden?“ Lieutenant James Albridge staunte nicht schlecht, als einer seiner Leute ihm diese Nachricht in die Hütte brachte, die ihm als Quartier diente. „Ja Sir!“, erwiderte Sergeant Waters. „Und die Jungs haben ihm mit Johlen und Klatschen zugestimmt, als sie sahen, dass die Deutschen begangen, ihren Schützengraben zu schmücken. Ich glaube die meinen es ernst?“

Albridge zwirbelte seinen Schnurrbart. Es gab keinen Befehl von der Heeresleitung, die Kampfhandlungen einzustellen. Also würde er eine solche Entscheidung auf seine eigene Kappe nehmen müssen.

Einerseits bedeutete das Ärger mit seinen Vorgesetzten, wenn das herauskam, weil die „Verbrüderungen“ nicht gerne sahen, auf der anderen Seite, würde es auch die Moral seiner Leute stärken. Die Princess Mary Box, die er am Vortag an seine Einheit hatte verteilen lassen, war nur ein schwacher Trost für das gewesen, was die Männer – Familienväter, junge Ehemänner und Söhne heute in in den kommenden Tagen in Kauf nehmen mussten.

Auch er vermisste seine Frau Elizabeth und ihre gemeinsamen Kinder Edward Albert und Victoria Mary, das Beisammensein mit der Familie in dem alten Anwesen drüben in Yorkshire, die heimeligen Tage am Kamin …

Sergeant Waters blickte ihn immer noch abwartend an. „Er bat auch darum, die Toten begraben zu dürfen“, fügte er noch hinzu. „Schließlich wäre das die Christenpflicht gegenüber unseren gefallenen Brüdern.“ Gerade in diesem letzten Satz lag eine besondere Dringlichkeit, spürte Albridge. Kein Wunder, hatte Waters doch einen Neffen dort draußen verloren.

Deshalb überlegte er nicht mehr länger und holte tief Luft. „Also gut – ich komme mit, und höre mir an, was der Krautfresser zu sagen hat.“

In seinem Herzen hatte er aber bereits eine Entscheidung getroffen. Denn diese Bitte, diese Gesten und die Reaktion seiner Leute, bezeugte, dass noch nicht alle Menschlichkeit in ihnen erloschen war, der Krieg ihre Seelen noch nicht ganz hatte erkalten lassen. Und diese Flamme musste genährt werden – sonst würde sie die große Bestie eines Tages vollständig verschlingen …

* * *

So also nahm in einem Schützengraben bei der flämischen Stadt Ypern in Belgien der Weihnachtsfrieden von 1914 seinen Anfang. Soldaten legten ihre Waffen nieder und stiegen mit Schaufeln und Hacken aus den Schützengräben.
Zunächst begruben sie schweigend ihre Gefallenen und wichen sich aus, aber schon das stille Gebet an den Erdhügeln einte die Gegner im Niemandsland.

Später wusste niemand mehr zu sagen, wer als erster seine Stimme erhoben hatte, um ein Lied anzustimmen – aber jeder der Männer fiel in den Gesang ein. Und es blieben nicht nur Trauerklagen – schon bald erklangen weihnachtliche Lieder in zwei Sprachen. Anstatt weiterhin auf den Boden und auf den Schlamm zu starren, hob ein jeder seinen Kopf und blickte das Gegenüber an, lasen in den müden Gesichtern.

Mit einem Male streckte ein deutscher Unteroffizier seine Hand. „Herzliches Beileid! War das dein Bruder?“
„Nein, mein Vetter, aber wir sind zusammen aufgewachsen!“, erwiderte sein Gegenüber zögerlich und blickte misstrauisch drein. „Und deshalb...“
„Ich weiß, wie du dich fühlst! Ich habe meinen Bruder in der Schlacht verloren“, fügte der Deutsche hinzu, zog die Hand aber nicht zurück. Und seine Geduld wurde belohnt, denn der Engländer erwiderte diese Geste.

Das brach das Eis. Auch andere Soldaten begannen miteinander zu sprechen. Bald schon erklang sogar ein Lachen über dem Stimmengewirr.

Selbst die beiden kommandierenden Offiziere standen sich irgendwann gegenüber und beobachteten Seite an Seite das muntere Treiben. „Das ist für mich bisher unvorstellbar gewesen …“, erklärte Lieutenant Albridge leise und sah sein deutsches Pendant an.

Zehmisch nickte. „Das zeigt, dass wir trotz aller Feindschaft noch denkende und fühlende Menschen sind und einander gar nicht einmal so unähnlich, egal, was der Große Krieg bisher aus uns gemacht hat. Das ist ein Moment, den wir in unserem Herzen bewahren sollten, weil er so unglaublich wie wunderbar ist.“

Die beiden kommandierenden Offiziere sahen sich noch einmal an und betrachteten, dann wieder ihre Männer. Engländer hatten einen Ball hervor geholt, den die Soldaten nun zwischen sich hin und her kickten.

Bald schon bald würden sie wieder Feinde sein und sich für diese Regelwidrigkeit vor ihren Vorgesetzten rechtfertigen müssen – aber nicht an diesem Tag und zu dieser Stunde. Nicht, wenn der Stern der Hoffnung auf eine bessere und vielleicht friedvolle Zukunft über dem Schlachtfeld leuchtete …
Stichworte: story
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Kommentare

  1. Avatar von Tamara
    Was für eine wunderbare Geschichte in Erinnerung an den Weihnachtsfrieden vor hundert Jahren.
    Mich hat das im Geschichtsunterricht damals enorm beeindruckt, auch wenn ich mich bis heute frage, wie ich auf jemandem - im schlimmsten Fall - schießen kann, mit dem ich vorher gemeinsam gesungen, gelacht und auch getrauert habe.

    Du hast diese Tage mit Deiner Geschichte wieder so wunderbar lebendig für mich gemacht, mir kamen die Tränen beim Lesen, so schön hast Du das geschrieben!

    Ganz ganz lieben Dank!