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Reziwelten

Sechs - Nikolaus

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Obwohl es noch mitten in der Nacht war, löste sich Kyra von ihrem Liebsten und schlüpfte unter den Decken hervor. Leise huschte sie durch die Kammer, um den Gemahl nicht zu wecken, ebenso wenig wie die drei Kinder, die ebenso selig und süß zwischen ihren Decken schlummerten, oder ihr Jüngstes in der Wiege.

Natürlich war es noch war es viel zu früh, das Feuer zu schüren, aber in dieser Nacht war sie in einer ganz anderen Mission unterwegs, für die sie weder Wärme noch Licht brauchte. Der Schein des Mondes, der durch die oberen Luken fiel reichte ihr aus.

Rasch huschte sie zur einer der großen Truhen an der Wand und holte einen Leinenbeutel hervor, huschte damit zum Kamin, wo die Glut noch zwischen der Asche glomm und beugte sich zu den in Reih und Glied zum Trocknen aufgestellten Schuhen hinunter, um diese dann mit kandierten Früchten, Nüssen, Mandel- und Honiggebäck zu füllen und darauf einen goldgelben Kuchen zu legen.

Für einen Moment hielt sie inne und seufzte leise, erinnerte sich an den Tag vor nunmehr zwölf Jahren, an dem auch sie einen goldgelben Klumpen in ihrem Schuh vorgefunden hatte. Ohne diese Gabe …

Die junge Frau richtete sich auf und trat mit dem nun leeren Beutel an das Fenster. Sie öffnete die Läden, um über die noch dunklen Häuser den Hügel hinauf zur Kirche zu blicken. „Habt Dank!“ flüsterte sie in Gedenken an den Mann, der sie vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt hatte und im letzten Sommer von allen Bewohnern Myras betrauert von ihnen gegangen war.

Als sei es gestern erst geschehen, erinnert sie sich an den Tag, an dem ihr Vater Ioannis, ihr und ihren Schwester Maria und Irene eröffnet hatte, sie zu den Hübschlerinnen schicken so wollen, nur weil er nicht das Geld für eine Aussteuer habe, nun nachdem er kaum noch Auskommen als Tischler fand und nach dem Tod der Mutter auch die letzten Ersparnisse fast aufgebraucht waren. Schon am nächsten Morgen wolle er sie daher in das Rote Haus bringen.

Sie dachte daran, wie sie mit Tränen in den Augen in die Kirche gelaufen war, anstatt sich wie ihre Schwestern zu verkriechen, und die Heilige Mutter Maria um Hilfe und Beistand gebeten hatte, hörte wie damals das Rascheln eines Gewandes hinter sich und sah erneut den Schatten eines hochgewachsenen bärtigen Mannes, mit Hirtenstab davon eilen.

In der Nacht war dann ein Wunder geschehen. Ein Geschenk aus dem Himmel … nein aus den Händen des gütigen Herrn Nikolaus, der schon so lange ihrer Stadt Myra vorstand, wie Kyra ihren Schwestern nicht vorenthalten hatte, rettete sie vor dem ihnen bestimmten Schicksal und ermöglichte ihnen, im kommenden Jahr nicht nur gute Ehemänner zu finden, sondern auch ihrem Vater ein Auskommen bis zu seinem Tode zu geben.

Aus Dankbarkeit gegenüber dem Bischof, der die Stadt nur zwei Jahre später rettete, indem er Seeleute überredete, das Korn des Kaisers mit der durch eine Dürre an einer Hungersnot leidenden Stadt zu teilen, in Gedenken an seine besondere Zuneigung zu den unschuldigen Kindern, hatten Irene, Maria und Kyra damit begonnen, die Kleinsten mit süßen Gaben zu bedenken – in Gedenken auf die gleiche Art wie er heimlich in der Nacht – ein Beispiel, das in Myra rasch Schule gemacht hatte.

Heute gab es kaum einen Haushalt, der nicht ähnlich wie sie handelte und in der Nacht zum sechsten Tag des Dezembers die Kinder in seiner Obhut beschenkte. Und die Kunde von diesem Brauch, die Geschichte, die sich darum rankte, schien sich auch über die Dörfer in die anderen Städte zu verbreiten - auch wenn sich niemand sicher war, ob es dem Bischof wirklich gefiel, das man in seinem Namen solch einen Kult trieb. Selbst Kyra und ihre Schwestern nicht.

Kyra ließ ihren Blick noch einmal über die Häuser in der Straße schweifen. Erst jetzt merkte sie, dass ihr kalt war – bei den bloßen Füßen und dem dünnen Nachtgewand kein Wunder. Es war an der Zeit, wieder unter die Decken zu schlüpfen und sich an Nikodemus' warmen Körper zu kuscheln, um noch ein paar Stunden zu ruhen ...

Doch gerade als sie die Läden schließen wollte, hielt sie inne und beugte sich vor – hatte sie in den Augenwinkeln nicht eine Bewegung gesehen? Und dann hielt sie die Luft an, denn am Ende der Straße – dort wo das Mondlicht auf das Pflaster fiel, sah sie eine in weite Gewänder gekleidete Gestalt. Auch wenn diese die Kapuze des Mantels über ihr Haupt gestreift hatte, verrieten der wallende Bart und der Hirtenstab doch einiges.

Kyra hielt die Luft an. War das nicht …

Nikolaus von Myra wandte sich ihr zu und hob die Hand zu einer segnenden Geste. Auf seinem Gesicht lag ein gütiges und weises Lächeln. „Wohl getan, meine Tochter …“, wisperte ihr die Erscheinung noch zu, ehe sie verblasste.

Die junge Frau atmete tief ein und wieder aus und spürte, wie sie eine wohlige Wärme durchströmte. Jetzt endlich hatte sie die Gewissheit, dass sie nichts Falsches tat, denn Nikolaus selbst hatte ihr damit die Erlaubnis gegeben, die Freude und das Glück weiter zu geben, die sie selbst einst erfahren hatte. Und sie hoffte in ihrem Herzen, dass auch andere so handeln und denken würden, wenn sie den Brauch durch die Welt und Zeit tragen würden.
Stichworte: story
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Kommentare

  1. Avatar von John's Chaya
    Dankeschön für dieses schöne Nikolausgeschenk. Die Geschichte berührt einen sehr - einfach wunderschön.