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Reziwelten

Zweiundzwanzig

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Einen schlimmeren Fehler hatte sie nicht begehen können. Aber nein, sie hatte sich ja selbst beweisen müssen, dass sie es konnte. Und natürlich war sie gescheitert und musste mit den Konsequenzen leben. Denn nun steckte sie mitten in dem wilden Treiben drin und kam nicht mehr raus.

Gehetzt sah sie sich um. Sie sah den Tumult, die schiebenden, sich wälzenden Massen … und sie wollte die gleichzeitig nicht wirklich wahrnehmen. Doch ausblenden konnte sie es auch nicht und noch weniger …

Rechts und links, vorne und hinten waren nur Leute. Ein Mann schob sich an ihr vorbei und schubste sie dabei mit seiner breiten Schulter und seinen kräftigen Armen grob zur Seite. Durch diese Bewegung rempelte sie unabsichtlich eine ältere Dame an, die sofort gereizt mit einer Gegenbewegung reagierte. „Unerhört … Passen Sie doch gefälligst auf!“ Die schrille Stimme brannte sich in ihren Geist, genauso wie der mörderisch giftige Blick aus dem verkniffenen Gesicht über dem Kunstpelzkragen.

„Entschuldigen Sie ...“ Was sollte sie auch sonst stammeln?

Orientierungslos tappte sie weiter, nutzte jede noch so kleine Lücke – aber das Ende der Einkaufsstraße schien noch so weit entfernt. Würde sie jemals heil dort ankommen? Oder irgendwann einfach nur noch zusammenbrechen und zertrampelt werden?

Die Massen, die sich in zwei Richtungen aneinander vorbei schoben – und das manchmal völlig durcheinander, drängten sie von einer Seite zur anderen. Beklemmung machte sich in ihrer Brust breit. Sie kam sich vor, als wäre sie zwischen zwei Mühlsteine geraten.

Dann schossen ihr die Tränen in die Augen. Weil sie nicht rechtzeitig genau auswich, rammte ihr ein Mädchen den knochigen Ellenbogen in die Seite. Irgendwer drückte sie mit einem Fluch wieder zurück. Einkaufstaschen schlugen gegen ihre Beine. Die Kanten der Kartons darin stachen in ihre Waden.

'Ich will hier weg!' Alles in ihr schrie nach Flucht … nur weg, nur weg. Wieder sah sie sich panisch um. Ein Kinderwagen zwang sie dazu, zurückzuweichen. Der Schritt nach hinten nutzte nicht viel, ein Fuß wurde von einem Rad überrollt und gleich danach von einem spitzen Absatz fast durchbohrt.

'Ich kann nicht mehr!' Das Herz pochte immer schneller. Es wollte in der Brust zerspringen. Auch das schnellere Atmen half nicht, um die Panik zu besiegen. „Bitte … bitte …!“

Aber niemand schien ihren Hilfeschrei zu hören, hören zu wollen … alle hatte nur sich selbst und ihr Ziel im Kopf. Die Familie, die mit Kind und Kegel losgezogen waren, um den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Die Senioren, die sich am Glühweinstand zum Klönen treffen wollten und die Menge dazu zwang, um ihre mitten auf der Straße stehenden Grüppchen herum zu strömen, wie die stürmische Brandung um eine Klippe.

Da die verkniffen dreinblickende Mittfünfzigerin, die die Tüte mit den letzten Weihnachtseinkäufen an sich drückte, um die Wünsche und Normen der Gesellschaft zu erfüllen und eine gute Mutter, Großmutter und oder vielleicht zu sein Tante. Der Mann, der sich ganz offensichtlich für das obligatorische Parfüm entschieden hatte, weil er nicht wusste, was er seiner Partnerin sonst schenken sollte. Die Jugendlichen, die ihren Spaß haben wollten, sei es nun durchs Shoppen mit Freundinnen oder einem Schluck Alkohol an den Ständen des Weihnachtsmarktes, verschafften sich einfach ihren Platz.

Und um sie herum waren dann auch noch die glitzernden Stände, die blitzenden Beleuchtungen, die unzähligen Stimmen, durchmischt von Kindergeschrei und den üblichen Weihnachtshits aus blechernen Lautsprechern.

Der Endspurt der diesjährigen Weihnachtszeit war erreicht. Zwei Tage noch bis Heiligabend, dem Fest des Konsum … und bis dahin galt es noch viel zu erledigen.

Da blieb keine Zeit für die Mitmenschen in Not. Verständnislos glotzende Gesichter, Augen, die sich abwandten. Verächtlich geschürzte Lippen und Getuschel. Finger die auf sie zeigten. Sie redeten bestimmt über sie. Über die besoffene Matrone, die sinnlos durch die Gegend taumelte. Weil sie zu viel Alk oder gar Drogen intus hatte … Denn so was gehörte gerade jetzt und hier nicht auf die Straße … gerade wenn Familien mit kleinen Kindern unterwegs waren, die so was noch nicht sehen sollten.

Weihnachten war schließlich die Zeit der heilen Welt, in der alles glänzte … alles glänzen und harmonisch leuchten musste, die Tage, in dem die schmutzigen Seiten der Welt ausgeblendet werden mussten, auch wenn sie sich eigentlich nicht verleugnen ließen …

* * *

Sie zuckte zusammen, als sich eine Hand sanft auf ihren Arm legte. Durch den Schleier aus Tränen in ihren Augen sah sie ein bärtiges Gesicht, dass sie beruhigend anlächelte. „Es ist dir zu viel, Mädchen … hm? Komm, ich hole doch hier aus.“

Er roch nach altem, saurem Schweiß und Alkohol, aber gerade das verschaffte ihm die Möglichkeit eine Gasse durch die Menge zu schaffen, sie zu einem breiten Hauseingang mit einer Nische zu führen, in dem er es sich mit Rucksack, Decken und Hund gemütlich gemacht hatte, um dem Gewühl zu entgehen.

Hier war ein sicherer Hafen … ihre aufgewühlte Seele beruhigte sich langsam, während sie sich auf den kleinen wackligen Hocker setzte, den er irgendwoher hervorzauberte und ihr hinstellte. „Hol erst mal tief Luft. Ich bin übrigens der Basti ...“ Gütige Augen lächelten sie aus dem verwitterten Gesicht an. „Und ich hoffe es macht dir nichts aus …“

„Nein … nein, ganz und gar nicht … danke!“, sprudelte es aus ihr hervor, auch wenn die Gefühle in ihr immer noch tobten wie ein Sturm. Noch vor ein paar Tagen hätte sie einen Penner, einen Obdachlosen wie ihn nicht einmal mit einem Blick bedacht, dafür schämte sie sich jetzt. Und gleichzeitig war sie ihm mehr als dankbar. Er hatte ihren Hilferuf gehört, er hatte sie gerettet … und gab ihr nun die Chance, sich wieder zu beruhigen.

„Du hast nichts mit Weihnachten am Hut, hm?“ lenkte Basti ab. „Siehst mir nicht so aus, als würdest du an dem Gewühl da draußen Spaß haben. Geht mir genauso … ist doch alles nur Augenwischerei und Fassade?“

Sie sah ihn erstaunt an? „Augenwischerei?“

„Na ja, ein paar Leute meinen es ja immer noch ernst … aber ich glaube das sind die wenigsten.“ Er seufzte. „Ich muss zugeben, vor ein paar Jahren habe ich auch noch ähnlich gedacht. Hatte einen Job, eine Familie. Aber dann ging alles innerhalb von ein paar Monaten den Bach runter … und dann hatte es sich was mit ...“ Er schnaubte. „ … dem Konsum. Als dann auf der Straße gelandet bin, habe ich begriffen, was ich schon lange zuvor verloren hatte ...“

„ … dass zu Weihnachten nicht die großen und teuren Geschenke zählen, sondern die Zeit und die Liebe, die man den anderen schenkt.“ Sie nickte und schlug die Augen nieder. „Meine Mutter ist im Sommer gestorben … und ich … ich ...“ Nun sprudelte das aus ihr heraus, was sie an diesem Weihnachten besonders belastete. Gut, sie war auch schon zuvor niemand gewesen, der ausgiebig feierte, aber gerade in diesem Jahr merkte sie selbst, was ihr verloren hatte.

Basti hörte ihr aufmerksam zu und ergriff irgendwann ihre Hand. Und auch wenn er nicht viel sagte – diese kleinen Gesten waren das größte Geschenk für sie, viel wertvoller als die Plastations, den Schmuck, die Uhren und die vielen anderen Dinge, die die Leute draußen mit sich herumtrugen, um sie unter den Weihnachtsbaum zu legen.

Und sie spürte auch, dass sie ihm etwas dafür zurückgab, was ihn andere verweigerten – einen Moment, in dem er nicht allein und unbeachtet war, in dem er einfach einmal für einen Menschen da sein konnte und durfte, der ihn wirklich brauchte, und der seine liebevollen Gaben voller Dankbarkeit annahm …
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